Stippvisite in der Blumenstadt Erfurt
Kaum eine andere Stadt hat Johann Wolfgang von Goethe so oft besucht wie Erfurt. Nur ein Katzensprung von Weimar entfernt, muss es doch genügend Gründe gegeben haben, der Blumenstadt an der Gera mehrere Dutzend Mal die Ehre zu erweisen.
Dom und Severikirche vom Petersberg aus gesehen
Ganz sicher war es der Franzosen-Kaiser Napoleon, der am 2. Oktober 1808 in der ersten Etage der kurmainzischen Statthalterei – heute Sitz des Ministerpräsidenten von Thüringen – den damals berühmtesten Dichter empfing. „Sie sind ein großer Mann“, hieß er seinen Gast willkommen.
Der Dom ist von überall gut zu sehen. Hier ein Blick aus der Altstadt
Vielleicht galt Goethes besonderes Interesse aber auch dem im Jahr 1253 geweihten Erfurter Dom, vor dem der merkwürdige Heiler, Schwarzkünstler und Wahrsager Dr. Faustus im 15. Jahrhundert sein Unwesen getrieben haben soll. Die Sage um ihn inspirierte Goethe zu seinem „Faust“. Oder war es gar die Thüringer Bratwurst, deren Duft auf dem Domplatz kaum jemand entgeht und die seit Jahrhunderten nicht klein zu kriegen ist.
Ehemalige kurmainzische Statthalterei. Heute Sitz des Thüringer Ministerpräsidenten. Im Zimmer mit dem Erker (links) traf Napoleon Goethe
Das Wahrzeichen Erfurts ist das Ensemble von katholischem Marien-Dom und Severikirche. Martin Luther, der 1507 im Dom seine Priesterweihe empfing, nannte die Stadt „Erfordia turrita” – türmereiches Erfurt. Im Mittelalter hatte die Stadt 38 Kirchen, von denen 27 erhalten sind.
Blick auf dem Domplatz und viele Kirchtürme im Hintergrund
Es ist nicht selbstverständlich, durch das alt-ehrwürdige Erfurt spazieren zu können. Dem SED-Staat waren die alten, erhaltungswürigen Bauwerke ein Dorn im Auge. Sie sollten abgerissen und durch Platten- und Monumentalbauten ersetzt werden. Doch davon später mehr.
Die Silhouette von Mariendom und St. Severi ist seit 25 Jahren eine einzigartige, siebenhundertjährige Kulisse, wenn sich in jedem Sommer die 70 Domstufen in ein Veranstaltungs-Highlight Thüringens verwandeln. Sie bilden eine spektakuläre Open-Air-Bühne für die Domstufenfestspiele, die inzwischen weit über Erfurts Grenzen hinaus bekannt und beliebt sind.
Die für einen sommerlichen Theaterabend vorbereiteten 70 Domstufen
In Erfurt inszenierte Kaiser Napoleon in seinem Größenwahn 1808 im einstigen Universitäts-Ballhaus in der Futterstraße einen Fürstenkongress, an dem neben vielen anderen auch Zar Alexander von Russland teilnahm, nach dem übrigens der Berliner Alexanderplatz benannt wurde. Napoleon ging es um die Neuaufteilung Europas. Die allerdings übernahm wenige Jahre später, als der Korse nach seinem „Waterloo“ auf St. Helena verbannt war, der Wiener Kongress.
Ansichten der berühmten Krämerbrücke mit der Ägidienkirche
Deutschland wurde in 34 Königreiche, Kurfürstentümer, Herzogtümer, Fürstentümer und Freie Städte zerlegt. Das von Napoleons Gnaden zwischen 1806 bis 1814 existierende Fürstentum Erfurt wurde 1815 Preußen zugeschlagen. Das Haus in der Futterstraße wurde im Gründungsjahr des zweiten Deutschen Reichs 1871 zu Ehren von Kaiser Wilhelm I. in „Kaisersaal“ umbenannt.
Zu den vielen geschichtlichen Ereignissen, die sich mit diesem Haus verbinden, gehört die Uraufführung von „Don Carlos“ im Jahr 1791 in Anwesenheit Friedrich Schillers. Es schien, als sei die Forderung von Marquis Posa an den König, „Geben Sie Gedankenfreiheit“, genau hundert Jahre später auf dem berühmten Erfurter Parteitag der SPD eine Forderung an Wilhelm II. gewesen. Damals resümierte Rosa Luxemburg: „Wir sind wieder bei Marx.“ Nach dem Fall des Sozialistengesetzes 1890 mit dem Verbot der SPD gehörten das Wahlrecht, der Achtstundentag und der Arbeitsschutz zu den Zielen des Erfurter Programms.
Der Kaisersaal in der Futterstraße. Hier inszenierte Napoleon seinen Fürstenkongress, und hier fand 1891 der Erfurter Parteitag der SPD nach dem Verbot der SPD statt
Wie viele Theaterbesucher, Fürsten, oder Sozialdemokraten damals über die benachbarte 125 Meter lange und 19 Meter breite Krämerbrück spazierten, ist nicht überliefert. Die Brücke über die Gera bestand vor mehr als tausend Jahren aus Holz und wurde nach einem Brand 1325 durch einen heute noch bestehenden Steinbau ersetzt. Die eingangs am östlichen Brückenkopf erbaute gotische Ägidienkirche entstand im selben Jahr.
Ansicht der Krämerbrücke mit einigen der 32 mittelalterlichen Häusern
Die Brückenkonstruktion ist die einzige nördlich der Alpen, auf der Häuser stehen. Vergleichbares gibt es nur in Florenz und Venedig. Dieser „Überweg über die Gera“, besagt eine Inschrift, gehörte zur Ost-West-Handelsstraße zwischen Kiew und Frankfurt am Main. Von den ehemals 62 Häusern mit Wohn- und Handelsräumen sind 32 erhalten und sorgsam restauriert. Viele kleine, liebevoll gestaltete Geschäfte, vor allem des Kunsthandwerks, haben hier ihren Sitz.
Blick auf den Fischmarkt mit seinen dem neugotischen Rathaus, vielen berühmten alten Bürgerhäusern und dem steinernen heiligen Martin als Schutzpatron der Stadt aus dem 16. Jahrhundert
Im Gasthaus „Zur Hohen Lilie“ am Domplatz nächtigte im 30-jährigen Krieg der Schwedenkönig Gustav II. Adolf
Erfurt war einst so bedeutend, dass Kaiser Friedrich I. (Barbarossa) in seinen Mauern fünf Reichstage abhielt. Zudem wurde am 1. Mai 1392 auch eine der ersten deutschen Universitäten – einzigartig damals mit vier Fakultäten – gegründet, nach Bologna, Paris, Oxford, Prag, Wien, Heidelberg und Köln die achte in Europa. In die Stadt der Wissenschaften zog es fortan viele berühmte Persönlichkeiten, wie den „Rechenmeister der Deutschen“ Adam Ries. Klangvolle Namen, die sich mit der Universität verbinden, bildeten Anfang des 15. Jahrhunderts den Erfurter Humanistenkreis. Neben Martin Luther Erasmus von Rotterdam, Ulrich von Hutten, Christoph Martin Wieland und andere. Sie trafen sich im gut erhaltenen Haus „Zur Engelsburg“. Aus ihren Kreisen erschienen die so genannten „Dunkelmännerbriefe“, die sich gegen Unmoral und Unwissenheit sowie katholische Spätscholastik, vor allem der Dominikanermönche, wandten.
Das berühmte Haus „Zur Engelsburg“ mit dem „Humanistenerker“. In diesem Zimmer trafen sich die geistigen Wegbereiter der Aufklärung zu Beginn des 16. Jahrhunderts
Erfurt gehörte im späten Mittelalter zu den großen und reichen deutschen Handelszentren. Durch den Waidanbau handelten die Erfurter europaweit mit ihrer berühmten blauen Farbe. Eine mittelalterliche Waidmühle befindet sich auf der Cyriaxburg, wo in den sechziger Jahren eine Internationale Gartenbauausstellung eröffnet wurde. Der gewerbsmäßige Gartenbau und die Gemüsesamenzucht wurden durch Christian Reichart im 18. Jahrhundert beispielhaft für Deutschland in Erfurt begründet, das seinem Beinamen „Blumenstadt“ alle Ehre macht. Große Gartenbauunternehmen wie Christensen und andere fühlen sich bis heute Reicharts Vermächtnis verpflichtet.
Blumen – wo immer sich eine Möglichkeit zum Anbau ergibt
Von der Krämerbrücke sind es nur ein paar Schritte zum Fischmarkt. Rund um das neugotische Rathaus reihen sich reich verzierte spätmittelalterliche Bürgerhäuser, darunter das Haus „Zum Roten Ochsen“, in dessen Fries über dem Erdgeschoss Figuren die sieben Tage der Woche symbolisieren und wo zudem die griechischen Musen dargestellt sind. Das „Haus zum Breiten Herd“ ist eines der meistfotografierten Gebäude der Stadt. Auf dem Fischmarkt präsentiert sich aus Stein aus dem Jahr 1561 der heilige Martin als Schutzpatron der Stadt. Ein paar Schritte nur sind es bis zum Technischen Denkmal und Museum „Neue Mühle“, in der bis heute die vorgeführte Mahlkunst früherer Zeiten beeindruckt.
Museum „Neue Mühle“ in der Hermann-Jahn-Straße
Ausgegrabenes Stück der alten Stadtmauer vor dem neuen Theater der Stadt
Gern genutzter Service für Stadtrundfahrten
Mit Martin Luther ist Erfurt ganz besonders verbunden. Zu Beginn des 16. Jahrhundert studierte er an der Erfurter Universität zunächst Rechtswissenschaft, stieg aber bald auf Theologie um. Nach dem Studium lebte er als Mönch bis 1511 im Erfurter Augustinerkloster. Wenige Jahre später übergab der Reformator in Wittenberg seine 95 Thesen der Öffentlichkeit. Mit seiner Übersetzung der Heiligen Schrift aus dem Griechischen ins Deutsche auf der Wartburg bei Eisenach gab Luther den Deutschen eine einheitliche Schriftsprache.
Luther-Denkmal vor der eingerüsteten Predigerkirche am Anger
Die Pforte zu einer der ältesten deutschen Universitäten, durch die viele Jahre lang Martin Luther zum Studium schritt
In den reformierten Kirchen wurde nicht mehr auf lateinisch gepredigt, sondern für alle verständlich. Und die Bibel war fortan kein Buch mit sieben Siegeln mehr, sondern wurde in viele Haushalten gelesen. Luthers reformatorisches Wirken hat wie kaum ein anderer die Welt verändert, die katholische Kirche gespalten und den evangelischen Protestantismus zu einer neuen, von Rom unabhängigen Religion des Volkes begründet.
Zur Altstadt gehören zahlreiche enge Gassen, wie sie einst Bild zum Mittelalter gehörten
Im alten Zentrum von Erfurt, das in der DDR sukzessive abgerissen und durch Neubauten ersetzt werden sollte, ist heute ein beeindruckendes städtebauliches Flächendenkmal geworden mit einer Geschichte, die man sich am besten nur erlaufen kann. Selbst als langjähriger Erfurter, der ich war, erkannte man noch vor wenigen Jahrzehnten unter dem drohenden Verfall nicht, welcher architektonische Schatz der Vernichtung preisgegeben werden sollte. Die friedliche Revolution in der DDR 1989 mit vielen Demonstrationen auch in Erfurt verhinderte -, auch dank mangelnder Baukapazitäten – dass das Projekt verwirklicht wurde. Viele tausend Erfurter hatten sich bereits im März 1970, als Willy Brandt in der Stadt weilte, ihren Willen durchgesetzt, als die den abgesperrten Bahnhofsvorplatz stürmten und laut im Chor riefen „Willy Brandt ans Fenster“. Kurz darauf öffnete der SPD-Vorsitzende in der ersten Etage des Hotels, wo er mit Willi Stoph zusammentraf, das Fenster und winkte freundlich lächelnd den Bürgerinnen und Bürgern zu.
Als Willy Brandt 1970 in Erfurt weilte, riefen Tausend: „Willy Brandt ans Fenster“. Der SPD-Vorsitzende zeigte sich den Massen lächelnd winkend. Auf dem Dach ist der Ruf verewigt
Wer einen Blick auf die Stadt werfen möchte, der steige vom Domplatz hinauf auf den Petersberg, dessen alte Zitadelle wiederum ihre eigene Geschichte erzählt, und schaue rundherum auf eine in alter Schönheit wiedererstandene Stadt inmitten Deutschlands. Erfurt ist eine Stadt zum Verlieben. Für mich war sie es im wahrsten Sinne des Wortes vor 60 Jahren.
Der „Leierkastenmann“ verbreitet gute Laune in der Marktstraße zwischen Fischmarkt und Domplatz