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Der Marshallplan und die DDR

Am 16. April 1948 wurde in Paris der Marshallplan unterzeichnet. Er umfasste ein Hilfsprogramm für Westeuropa im Umfang von 12,4 Mrd. Dollar (heute 131 Mrd. Dollar). Damit leistete die USA 16 westeuropäischen Ländern mit Krediten, Rohstoffen, Lebensmitteln und anderen Waren Aufbauhilfe. Von den auf vier Jahre angelegten 14 Milliarden Dollar erhielt Westdeutschland 1,4 Mrd. (heute ein Wert von 9 Mrd. Dollar). Das „European Recovery Program“ (ERP) war erstmals vom damaligen US-Außenminister George C. Marshall in einer Rede an der Harvard-Universität 1947 verkündet worden und trägt daher seinen Namen. Ohne diese Hilfe wäre der wirtschaftliche Aufschwung in der 1949 gegründeten Bundesrepublik nicht so erfolgreich verlaufen.

Die Sowjetunion lehnte auf der Londoner Außenministerkonferenz Ende 1947 eine Beteiligung am Marshallplan ab, bezeichnete ihn als Versuch der Einmischung in die Souveränität der europäischen Staaten. Das Interesse Bulgariens, der Tschechoslowakei, Polens und Ungarns am Marshallplan hatte unter den Sowjets keine Chance. Die Gründung des  Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) im Januar 1949 war da nur ein schwacher Trost.

 Im Osten erfolgte die Hilfe in umgekehrter Richtung. Durch die UdSSR wurden in Ostdeutschland 2.000 bis 2.400 der wichtigsten und bestausgerüsteten Betriebe demontiert. Zudem 11.800 Kilometer Eisenbahnschienen in die Sowjetunion verbracht und damit das Schienennetz um die Hälfte reduziert.

Ab Juni 1946 erfolgte die Entnahme aus der laufenden Produktion. Rund 200 SAG-Betriebe in der DDR  (SAG: Sowjetische Aktiengesellschaft. Das waren Betriebe im Osten, die in das Eigentum der UdSSR übergegangen waren) produzierten von 1946 bis 1953 im Maschinenbau, in der Chemie, der Metallurgie und in anderen Betrieben  mit rund 300.000 Beschäftigten jährlich durchschnittlich fast ein Viertel des DDR-Bruttosozialprodukts. Zu diesen Unternehmen gehörten bis zu ihrer Rückgabe Ende 1953 so bekannte Betriebe wie Eisen- und Hüttenwerk Thale, Schwermaschinenbau Magdeburg, Transportanlagen Leipzig, Pressen- und Scherenbau Erfurt, Elektro-Apparate-Werke Berlin-Treptow, Filmfabrik Wolfen und Chemische Werke Schkopau.  Auf der Grundlage von Archivmaterialien kamen Experten der Berliner Humboldt-Universität auf eine Gesamtsumme von mindestens 54 Milliarden Reichsmark bzw. Ost-Mark an Reparationsleistungen allein der SAG-Betriebe für die UdSSR.

Hinzu kamen die von der DDR getragenen anteiligen Besatzungskosten für die Sowjetarmee, die einen Anteile an den Einnahmen des Staatshaushaltes der DDR von zwölf Prozent 1949 ausmachte, das waren rund 2,2 Milliarden DM. Dieser Anteil ging bis 1958 auf unter fünf Prozent zurück. Ab 1959 wurde der DDR die jährliche Zahlung  in Höhe von 600 Millionen DM, was einem Anteil von 25 Prozent der Besatzungskosten entsprach, erlassen.

Mit all diesen Maßnahmen für die Entschädigung der UdSSR hatte die Ostzone/DDR die höchsten im 20. Jahrhundert bekannten Reparationsleistungen erbracht. Sie betrugen 99,1 Mrd. DM – die der  damaligen Bundesrepublik Deutschland hingegen nur 2,1 Mrd. DM. Laut  Experten betrug die Reparationslast der DDR 97–98 Prozent Gesamtdeutschlands. Das ist pro Person in der DDR das 130-fache gegenüber einer Person der Bundesrepublik. 

Über einen weiterern Umstand, der der Bundesrepublik zugute kam, ihr aber nicht vorgeworfen werden kann, schrieb Walter Ulbricht am 30. Dezember 1961 in der Moskauer „Prawda“. Er bezifferte den wirtschaftlichen Schaden für die DDR durch Abwerbung durch die BRD und Massenflucht von Bürgerinnen und Bürgern der DDR bis zum Mauerbau mit rund 30 Milliarden DM. Von 1952 bis 1961 wechselten mehr als 20.000 Ingenieure und Techniker, 4.500 Ärzte und über 1.000 Hochschullehrer aus der DDR in die Bundesrepublik.

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Der Trick mit der falschen Fibel – Verleger täuscht Kunden

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Im Werbeangebot ist angebliche die Fibel, nach der  die Kinder in der DDR das Lesen in der Schule gelernt haben. „Beliebt und begehrt wie früher“ heißt es völlig zu Unrecht, denn keines der DDR-Kinder  hat bis 1990 diese Fibel gekannt. Es wäre auch zu schön gewesen, wie die Bilder zeigen:

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Tatsächlich gab es bis 1990, als das SED-Regime bereits untergegangen war und die DDR unmittelbar vor dem Beitritt zur Bundesrepublik stand, über Jahrzehnte eine andere Fibel. Nicht „Meine“, sondern ganz kollektivistisch „Unsere Fibel“. Der sozialistische Kollektivgeist wurde auch gleich auf der Innenseite belegt mit einem Fahnenappell mit Halstüchern und gehisster Fahne vor dem Schulunterricht. Sowie auch mit anderen Themen, die den Kindern seit 1974 bis 1990 mit dieser Fibel den sozialistischen Alltag nahebrachten. Ein paar Beispiele:

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Letztere Fibel, die 1989 schon 15 Jahre alt war, als Reprint-Ausgabe neu aufzulegen, würde der falschen Werbung gerecht, aber 9.99 Euro würde wohl kein Mensch dafür ausgeben. Da muss man schon tricksen und so tun, als hätten Millionen von ostdeutschen Erstklässlern mit einer Fibel, die der Untergang der DDR erst möglich gemacht hat und die in den Neunzigerjahren für viele ostdeutsche Schulanfänger galt, das Lesen gelernt. „Warum also die Tradition brechen?“, fragt die Werbung. Und bleibt die Antwort schuldig. Hauptsache der verarschte Kunde bezahlt.

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Unsere Helden und Idole

So weit waren Ost und West gar nicht auseinander

Junge Menschen sehnen sich nach Helden und Idolen. So war das auch in der DDR. Mit den vorgegebenen Helden konnten wir allerdings wenig anfangen. Sie hießen Thälmann, Liebknecht, Luxemburg, Beimler, Köbis und Reichpietsch und waren alle tot. Ermordet von der Reaktion. In der Schule nahmen wir ihre gut frisierten Lebensläufe durch und vergaßen sie wieder. Allenfalls wurde uns noch die Stelle gezeigt, an der im ehemaligen KZ Buchenwald Thälmann hinterrücks erschossen wurde.

Einprägsamer waren dennoch andere Helden, beispielsweise im Sport, wo spontanes Erleben lange in uns nachwirkte. Unvergessen der Radrennfahrer „Täve“ Schur, die Skispringer Helmut Recknagel und Jens Weißflog, die Fußballer Croy und Sparwasser, die Wasserspringerin Ingrid Krämer, die Sprinterinnen Marita Koch und Marlies Göhr, die Weitspringerin Heike Drechsler und Katarina Witt mit den angewachsenen Kufen an den Füßen.    

Apropos Sport. Unvergessen ist ein Erlebnis mit meinem Onkel Hugo im Sommer des Jahres 1954. Die Grundschule hatte ich beendet, einen Lehrvertrag in der Tasche und den Ernst des Lebens – wie mir nachdrücklich erklärt wurde – vor mir. Am 4. Juli 1954, dem Tag meiner Entlassung aus der Grundschule, bat mich mein Onkel für den Nachmittag zu sich nach Hause. Der Bruder meines Vaters war nach dem Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 aus dem „Roten Ochsen“ in Halle entlassen worden, wo er wegen angeblicher Antisowjethetze eingesperrt gewesen war.

Erwartungsvoll hockten wir in der geräumigen Wohnküche seines Häuschens vor dem Radio und verfolgten die Reportage vom Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft in Bern. Deutschland spielte gegen Ungarn, korrekt: die Bundesrepublik Deutschland gegen die Ungarische Volksrepublik. Wie hypnotisiert blickten wir auf die vergilbte Stoffbespannung über dem Lautsprecher im dunkelbraunen Holzkasten und bangten um einen, wie es lange schien, kaum noch erreichbaren Sieg der Deutschen.

Plötzlich riss uns die unvergessene Radioreportage von Herbert Zimmermann von den Stühlen: „Schäfers Zuspiel zu Morlock wird von den Ungarn abgewehrt – und Bozsik, immer wieder Bozsik, der rechte Läufer der Ungarn am Ball. Er hat den Ball – verloren diesmal, gegen Schäfer. Schäfer nach innen geflankt. Kopfball – abgewehrt. Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen – Rahn schießt – Tooooor! Tooooor! Tooooor! Tooooor!“ Gegen alle Erwartungen wendeten die Männer um Kapitän Fritz Walter das Spiel gegen die berühmte Ungarn-Elf zum siegreichen 3:2. Es war wohl die erste wirkliche Wende in der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Sensationell, was sich im Wankdorf-Stadion und in uns abspielte. Onkel Hugo wischte ein paar Tränen aus seinem Gesicht. Vielleicht empfand er so etwas wie Genugtuung für das an ihm begangene Unrecht. Einerseits gehörten die Ungarn zum Ostblock wie wir, andererseits waren die Spieler um Fritz Walter Deutsche wie wir. Keine Frage, für wen unsere Herzen schlugen. In Blöcken denken nur Politiker.

Über Jahre konnte ich die komplette deutsche Mannschaft mit allen Auswechselspielern im Schlaf aufsagen. Und natürlich war Sepp Herberger, jenseits aller Kenntnis, dass er bei den Nazis schon Reichstrainer einer „judenfreien“ Nationalmannschaft war, gleichermaßen zum Idol geworden.

 Mit der Zeit verblassten die Helden von Bern, zumal man in der DDR selten nach ihnen gefragt wurde. Sie machten anderen Helden im Kopf Platz. Solchen, die in Schule, Ausbildung und bei der FDJ-Abzeichenprüfung „Für gutes Wissen“ abgefragt wurden, deren Biografien in Zeitungen zelebriert wurden, nach denen sich Brigaden nannten und deren Bilder an Wandzeitungen klebten. Unsere Helden waren plötzlich Menschen wie Adolf Hennecke, der im Steinkohlenbergbau alte Normen über den Haufen bohrte, Frida Hockauf, eine Weberin, die den Ausspruch auf sich zu nehmen hatte: „So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben.“

Jahr für Jahr gab es neue Helden. Menschen, die die Normen übererfüllten, die schneller und besser Dächer deckten und Häuser bauten, Felder abernteten und pflügten, sowjetische  Neuerungen am besten nutzten. An ihren Sonntagsanzügen prangten bei Aufmärschen die Heldenmedaillen, für die es zudem zehntausend Mark gab. Und schneller ein Auto als für andere, die keine Helden waren.

Natürlich gab es auch noch die über alles erhabenen ganz großen Helden und Vorbilder, jene zwei Dutzend im SED-Politbüro, deren Fotos überlebensgroß am „Kampf- und Feiertag der Werktätigen“ kilometerweit durch die Straßen getragen wurden. Fast täglich begegnete man ihren Bildern in den Zeitungen. Verrückt nur, dass deren tägliche kleine Filmauftritte in der „aktuellen kamera“ des DDR-Fernsehens laut Einschaltquote kaum jemand sehen wollte. Vielleicht waren es nur Pseudo-Helden, also keine echten.  (Test: Nenne mir nur fünf!)

Dann gab es die Helden im Ausland, die uns zur Solidarität mahnten. Zum Beispiel Manolis Glezos, der im deutsch besetzten Griechenland die Fahne seines Landes auf der Akropolis gehisst hatte und nun von Militärregierungen verfolgt wurde. Oder Raymonde Dien, die mutige Französin, die sich auf die Schienen gelegt hatte, um Waffenexporte aus Frankreich nach Algerien zu verhindern. Der erschossene Kommunist Philipp Müller aus Essen, die schwarze Bürgerrechtlerin Angela Davis aus den USA mit einer inszenierten Mordanklage am Hals und der kommunistische Generalsekretär Luis Corvalán aus Chile. Und natürlich Che Guevara in Lateinamerika, Ho Chi Minh in Vietnam und Yasser Arafat an der Spitze der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO.

Wer waren denn nun wirklich unsere Helden und Idole? Da kommen Ideologien und politische Systeme völlig durcheinander. Es waren ohne Zweifel Juri Gagarin als erster Mensch im Weltall und Neil Armstrong, der als erster Mensch seinen Fuß auf den Mond setzte. Walentina Tereschkowa, die erste Frau und Sigmund Jähn, der erste Deutsche im Weltall. Ich zählte dazu Präsident John F. Kennedy, Willy Brandt nach dem Kniefall von Warschau und viel später Michail Gorbatschow. Und natürlich Nelson Mandela, Salvador Allende und Fidel Castro.

Dann begann in den Fünfzigern das Fernsehzeitalter. Als gesamtdeutsche Fernsehzuschauer lagen uns Peter Frankenfeld und Hans-Joachim Kulenkampff am Herzen. Wir schwärmten für die Dietrich, Curd Jürgens und Hardy Krüger sen., für die Knef und Erwin Geschonneck in „Karbid und Sauerampfer“, mochten besonders den Krug und die Karusseit, den Thate, die Domröse und die Hoffmann, die Tiller und den Giller.

Mit Heinz Erhard, Werner Fink, Dieter Hildebrandt und Wolfgang Neuss entging uns keine Sendung, wir versäumten ebenso wenig die Münchner Lach- und Schießgesellschaft und Ingo Insterburgs intelligente Blödeltruppe, deren Witz uns Tränen lachen ließ. Sie alle halfen uns die Freizeit abseits des sozialistischen Alltags zu genießen, wenn es mit Herricht und Preil zu wenig eigenen sinnfreien Humor gab. Von Satire ganz zu schweigen.

Es hieße Wasser in die Spree tragen, wenn ich als Idole unserer Jugend Elvis Presley und Bill Haley nenne und Harry Belafonte und Ella Fitzgerald – um nur wenige zu nennen. Die Beatles natürlich, deren einzige Amiga-Platte ich gut behüte, Depeche Mode, die Roling Stones und Udo Lindenberg mit seinem Sonderzug nach Pankow. Im eigenen Land päppelten sich gegen alle staatlichen Vorschriften und Verhaltensregeln mühsam die Puhdys, für die ich sogar einen Text beisteuerte, Karat, Silly und einige andere in die Gunst ihrer Fans.

Soweit auseinander waren die Helden und Idole der Jugendlichen in Ost und West nicht. Es war nur etwas schwieriger, sich in der DDR ihrer zu bedienen, ihre Platten, Bänder und CD zu sammeln, zu tauschen oder mitzuschneiden. Vielleicht wird das, was einst so schwer zu haben war, von jenen, die es Mühe kostete,  bis heute mehr geschätzt, als von denen, die mit dem Erwerb keine Probleme hatten. Und so verblassen die Erinnerungen an Helden und Idole hier auch etwas langsamer als dort.

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In der Asservatenkammer der DDR

Der Geheimtipp aus „The Guardian“

Es ist, als rieche man die DDR. Wer von René Schmidt in Garzin bei Strausberg durch sein einzigartiges Museum geführt wird, definiert möglicherweise Sammelleidenschaft neu. Im Obergeschoss seines geräumigen Hauses nahe dem Haussee hat er auf mehr als 100 Quadratmetern in mehreren Räumen zusammengetragen und thematisch sortiert, was  landauf, landab in den euphorischen Tagen des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik im hohen Bogen weggeschmissen wurde, als hätte man sich nicht schnell genug von der Vergangenheit trennen können.

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René Schmidt, leidenschaftlicher Sammler und Direktor seines eigenen Museums in Garzau-Garzin, Am Haussee 3

Doch irgendwann beginnt das Erinnern an Kindheit, Jugend und Arbeitsleben in einem Staat, den es nicht mehr gibt, der jedoch Generationen geprägt hat – insgesamt rund 25 Millionen Frauen, Männer, Kinder und Jugendliche. Ein Rundgang durch die Sammlungen ist wie ein Zurückschauen auf das eigene Leben – nostalgisch, nicht sehnsuchtsvoll, amüsiert und mitunter auch erstaunt. Und – um auf die Frage eines Besuchers aus den alten Bundesländern, der seinem Sohn die Asservatenkammer zum Fall DDR zeigte, an den Museumsdirektor einzugehen  – nein, man wünscht sich die DDR nicht zurück, doch ihr Equipment hängt einem an und macht sich mit der Bemerkung Luft: „Das hatten wir auch…!“  

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Oben links der Kleincomputer KC 85/2, der ab 1984 im VEB Mikroelektronik Mühlhausen gebaut wurde

Da ist die alte Nähmaschine von Veritas aus Wittenberge oder die noch viel ältere von Singer bis Dürrkopp, die als Erbstücke in Tausenden Haushalten im sozialistischen Zeitalter als Raritäten gepflegt und vor allem genutzt wurden. Was die Unterhaltungsbranche zwischen Berlin, Dresden und Ilmenau alle paar Jahre an Neuheiten, vom Musikschrank bis zum Miniradio, präsentierte, was die Kameraindustrie, von der „Pouva Start“ und „Perfekta“ bis zur  anspruchsvollen „Exa“- und „Practika“-Reihe auf den Markt brachte – René Schmidt hat es gesammelt und stellt es aus. Und da ist einer der ersten Computer aus volkseigener Produktion.

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Natürlich hat der Sammler, dem zu vielen seiner Exponate immer wieder ein witziger Kommentar entschlüpft, auch nicht das blaue und rote Pionierhalstuch vergessen, das einem in Kinderjahren stolz zum Hals heraus hing, zudem die berühmte Dreicksbadehose, eine ABV-Uniform, Handpuppen für das Kasperletheater, Kinderspielzeug,  Bücher, Zeitschriften, Speisenkarten…

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Mitte links die berühmte Dreicksbadehose für 1,30 Mark, nach der René Schmidt lange suchen musste. Rechts die Klistierspritze ENEMA 140 aus dem VEB Gummiwerke Berlin. Unten im Foto rechts neben der hölzernen Waschmaschine die TS 66, die  Wäscheschleuder und Entsafter in einem ist

Mit Kennerblick hat René Schmidt oft auch aus dem Sperrmüll gerettet, was für die Neuausstattung von Haus und Hof in Tausenden Familien im vereinten Deutschland im Wege war. Da fehlen auch nicht die Porträts von Pieck über Ulbricht bis Honecker, die in Bürgermeisterämtern und LPG-Büros hingen. Leider fehlt dem Sammler noch ein Amtsstubenporträt von Ministerpräsident Stoph. Doch vieles andere entschädigt dafür: Getränke in den Originalflaschen, Konserven mit ihren reizlosen Etiketten („aber immer noch verwertbar“), Reinigungsmittel von Ata bis Fay, Küchen- und Waschmaschinen, Simson-Mopeds, Uhren und und und…

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Im linken Foto in der Mitte ganz links die berühmte „Pouva Start“, ein Fotoapparat für Anfänger aus dem Jahr 1951. Rechts ein Blick auf die funktionsfähige Eisenbahn, für die René Schmidt verschiedene Spurweiten von Piko Sonneberg bis Zeucke Berlin verwendet hat

Sonderbarerweise war es die englische Tageszeitung „The Guardian“, die erstmals in einem größeren Artikel diese Ausstellung als Geheimtipp bezeichnete. Die Journalistin Nell Frizzel war mit ihrem Partner über den Europaradweg R1, von Buckow kommend, nach Garzin gelangt, wo ein kleines Schild einlud ins „DDR & Nostalgie-Museum, Eintritt frei“. Der 54-jährige René Schmidt führte die Journalistin durch die seit 2007 aufgebaute Ausstellung. Bald darauf sang der „Guardian“ ein Loblied, das von einem geordneten Chaos schwärmte und der schönsten Entdeckung auf dem Weg zwischen Polen und Berlin.

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In der Freiwilligen Feuerwehr, in der René Schmidt ebenfalls aktiv ist, wurde aus einem vierrädrigen „Trabi“ ein sechsrädriges Feuerwehreinsatzfahrzeug gebaut, das immerhin mit 200 Liter Wasser unterwegs sein kann

Sonntags von 8 bis 18 Uhr ist der Museumsdirektor bereit, Gäste durch das Panoptikum der Kuriositäten und Beweismittel an einen untergegangenen Staat zu führen. Oder einfach vorher mal anrufen.

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Das tragische Ende eines Reformers

Vor 50 Jahren (1965) schied DDR-Hoffnungsträger Erich Apel aus dem Leben

Zwei Ereignisse, die inzwischen ein Viertel- und ein halbes Jahrhundert zurückliegen, haben mehr miteinander zu tun, als man zunächst glauben mag. Der gewaltsame Tod Erich Apels im Dezember 1965, einer der größten Rückschläge in der Geschichte der DDR, ebnete den Weg zum Sturz Walter Ulbrichts und zur Machtübernahme durch Erich Honecker, der in eine siegreiche friedliche Revolution und in das Ende der DDR führte.

Erich Apel, der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission, schied durch Suizid aus dem Leben, Stunden bevor er ein langfristiges Handelsabkommen mit der UdSSR unterzeichnen sollte. In seinem Büro im Haus der Staatlichen Plankommission, dem heutigen Detlev-Rohwedder-Haus Wilhelm-/Ecke Leipziger Straße, erschoss sich der Chef des obersten Planungsorgans und Vertraute von SED-Chef Walter Ulbricht 48-jährig mit seiner Dienstpistole. An den Spekulationen um seinen nicht bis ins Detail aufgeklärten Tod möchte ich mich nicht beteiligen.

Im Ärztlichen Bulletin heißt es, er sei am 3. Dezember 1965 um 10.00 Uhr gestorben: „Er litt seit längerem an Kreislaufstörungen. In allerletzter Zeit zeigten sich außerdem Zeichen nervlicher Überlastung, die trotz aller ärztlichen Bemühungen zu einem plötzlichen Nervenzusammenbruch führten. In einer dadurch hervorgerufenen Kurzschlussreaktion schied Dr. Apel aus dem Leben.“

Apels Tod offenbarte das große Dilemma, in dem der reformfreudige Teil der SED-Führung steckte. Seit drei Jahren versuchte Walter Ulbricht, der 1953 die Krise um den Arbeiteraufstand nur schwer angeschlagen überstanden hatte und international mit der Lüge des Jahrhunderts („Niemand hat sie Absicht eine Mauer zu errichten.“) gebrandmarkt war, die Volkswirtschaft der DDR zu reformieren.

Die Wandlung eines Moskau-Treuen

Der Mauerbau 1961 hatte nicht die erwartete Auswirkung auf das Land, aus dem sich in den Fünfzigerjahren mehr als 25.000 Ingenieure und Wissenschaftler, Ärzte und Hochschullehrer in die Bundesrepublik abgesetzt hatten und deren Wirtschaftswunder an Sogwirkung nicht nachließ. Dadurch hatte die Stagnation der öffentlichen Ausgaben für Bildung und Ausbildung in der Bundesrepublik keine allzu negative Auswirkung. Zuwanderer aus der DDR sowie die Heimatvertriebenen gehörten zu den wichtigsten Aktiva der westdeutschen Wirtschaft. Der Nutzen übertraf bei weitem  das Ausmaß der über vier Jahre verteilten Marshallplanhilfe in Höhe von insgesamt 1,5 Milliarden Dollar. Selbst westdeutsche Ökonomen schätzten den Schaden für die DDR auf dreißig Milliarden Mark.

Ulbricht hat begriffen, dass eine Modernisierung der DDR in allen Bereichen unumgänglich ist. Als einer der ersten Ostblockmachthaber erkennt er die Vorteile neuer Wissenschaftszweige, wie der Kybernetik und der Datenverarbeitung und gründet 1966 den „Strategischen Arbeitskreis“, über den Fachleute aus Praxis und Wissenschaft in die Entscheidungen der Politik einbezogen werden sollten. Ulbricht ist über Jahre bestrebt eine DDR zu schaffen, die im friedlichen ökonomischen Wettstreit mit dem Westen bestehen kann. Tatsächlich setzt mit der von Ulbricht initiierten „Neuen Ökonomischen Politik“ eine kurzfristige Stabilisierung ein, erreicht die Wirtschaft zwischen 1963 und 1968 die höchsten realen Steigerungsraten.

Auf dem 6. SED-Parteitag im Januar 1963 hatte Ulbricht seine Wandlung vom harten Verfechter einer Moskauer Linie zum Reformer offenbart, indem er sein weitreichendes Programm zur Umgestaltung der DDR-Wirtschaft verkündete. Die Wirtschaft erfordere „ein richtiges Verhältnis von Akkumulation und Konsumtion, von Arbeitsproduktivität und Durchschnittslohn und einen optimalen Nutzeffekt der gesellschaftlichen Arbeit. … Die stetige Steigerung der Arbeitsproduktivität und die Senkung der Selbstkosten verlangen die konsequente Anwendung der fortgeschrittensten wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Produktion, die komplexe sozialistische Rationalisierung der Produktionsprozesse…“ Ulbricht begründete, dass der Lohn der Leistung zu entsprechen habe und nannte das Wertgesetz – im Grunde meinte er die Erzielung von Gewinn – ein entscheidendes Instrument zur Ermittlung und Kontrolle des Arbeitsaufwandes, um Arbeit, Material und finanzielle Mittel zu sparen.

Selbst West-Medien wurden hellhörig und schrieben: „Ulbricht wird liberal.“ Ökonomen der Bundesrepublik erwarteten bald ein „Wirtschaftswunder DDR“.

Junge Manager an Ulbrichts Seite

Seine wichtigsten Garanten für einen solchen Weg sah Ulbricht in Dr. Erich Apel und Dr. Günter Mittag, zwei junge Politiker und Ökonomen, die nicht die Schule des Straßen- und Klassenkampfes gegangen waren wie ihre älteren, zumeist aus dem Moskauer Exil zurückgekehrten Genossen in der Parteispitze. Der 1917 im thüringischen Judenbach geborene Apel hatte Werkzeugschlosser gelernt und war Diplom-Ingenieur für Maschinenbau. Er hatte neben Wernher von Braun an der so genannten Wunderwaffe V2 mitgearbeitet und nach dem Krieg ein Angebot von Brauns, ihn in die USA zu begleiten, abgelehnt. Stattdessen wurde er interniert und war bis 1952 als Oberingenieur am sowjetischen Raketenprogramm beteiligt. Nach seiner Rückkehr in die DDR wurde er mit 35 Jahren Minister für Maschinenbau.

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Erich Apel (l.) im November 1964 im thüringischen Chemieanlagenbau Rudisleben, dessen Erzeugnisse, darunter Trinkwasseraufbereitungsanlagen, Weltniveau verkörperten. Seine Gespräche mit Arbeitern waren stets konkret und von Fragen nach der Effektivität von Planung und Leitung geprägt

Der 1926 in Stettin geborene Günter Mittag hatte bei der Reichsbahn gelernt und danach Volkswirtschaft studiert. Beide stammten aus Arbeiterfamilien und hatten sich mit viel persönlichem Ehrgeiz emporgearbeitet. Solche jungen Managertypen förderte Ulbricht, um mit ihnen die Wirtschaft in neue Bahnen zu lenken.

Libermans Reform-Vorschläge

Was Ulbricht anstrebte, war im September 1962 in einem Artikel des Ökonomieprofessors Jewsej Liberman aus Charkow in der sowjetischen „Prawda“ nachzulesen. Unter der Überschrift „Plan, Prämie, Gewinn“ skizzierte er, wie eine sozialistische Volkswirtschaft weitgehend ohne Subventionen funktionieren kann, wenn der Gewinn als ein objektives Kriterium für die Leistungsfähigkeit herangezogen wird. Wenige Monate später wurden diese Reform-Vorschläge von der Moskauer Führung verworfen und Liberman wurde belehrt, dass das Ziel der Sowjetwirtschaft nicht der Gewinn sei, sondern die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen. Überhaupt sei Gewinnstreben eine Kategorie des Kapitalismus, die im Sozialismus nichts zu suchen habe.

Einzig Walter Ulbricht hielt an der Gewinn-Diskussion fest und beschritt neue Wege. Er löste 1963 den Volkswirtschaftsrat auf, in dem einzelne Bereiche ganze Industriezweige beherrschten. Er bildete die Staatliche Plankommission mit Erich Apel an der Spitze und gründete 17 Industrieministerien, deren Chefs fast alle zwischen 35 und 45 Jahre alt waren.

Mehr Autonomie für die Betriebe

Mit großem Eifer begann Erich Apel das Reformwerk auf den Weg zu bringen. Die starre Planvorgaben wurden reduziert, den Betrieben mehr Rechte zugebilligt und der Gewinn zum Maßstab des Erfolges erhoben. Die Vereinigungen Volkseigener Betriebe (VVB), die neugebildeten Kombinate und die Betriebe selbst bekamen mehr Autonomie, wobei sie aufgefordert wurden, das Weltniveau auf ihren Gebieten mitzubestimmen, die besten internationalen Erfahrungen zu nutzen und auch im Westen nachzuschauen, was sich für die eigene Arbeit eigne.

_H100305Aus meiner Mitschrift einer Ulbricht-Rede, in der er forderte, Systeme, Erzeugniss und Verfahren zu entwickeln, die noch nicht gedacht sind. Das sei eine Aufgabe der Großforschung, der Kombinate und Hochschulen

Für die Durchsetzung der Reformen waren zu ihrem Leidwesen nicht die „Apparatschicks“ in den Parteibüros zuständig, sondern junge, entscheidungsfreudige, selbständige Leiter an der Spitze der Unternehmen. In dieser Zeit verstärkten Apel und Mittag den engsten Führungszirkel der Partei, das Politbüro, wo sie zur Gefahr für die reformunwilligen, moskauhörigen Hardliner wurden, deren Hoffnungsträger „Kronprinz“ Erich Honecker war.

Tatsächlich machten die Reformen, die als „Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ (NÖSPL) ausgearbeitet wurden, große Fortschritte. Mit der unumgänglichen Industriepreisreform, neuen Verordnungen über die vertraglichen Beziehungen und der Bildung von Vertragsgerichten wurde Ordnung in das bis dahin fast undurchschaubare Geflecht der Wirtschaftsbeziehungen gebracht. Um Gewinne als Maßstäbe zu nutzen, mussten sie auf realen Preisen fußen. Das hatte großen Einfluss auf die Kosten, auf die wissenschaftlich-technischen Pläne, auf sauber geregelte Vertragsbeziehungen untereinander, zwischen Industrie und Forschung, Endproduzenten und Zulieferbetrieben und andere Bereiche, die schließlich auf dem Weltmarkt zum Tragen kamen.

Gegen das Wunschdenken

Im Juni 1965 sprach Erich Apel vor der SED-Bezirksleitung in Erfurt, wo ich als Wirtschaftsredakteur im ADN-Bezirksbüro tätig war. Die Oberhäupter um SED-Chef Alois Bräutigam versuchten mit vielen schönen Worten ihre Erfolge hochzujubeln. Erich Apel setzte dem ein Ende und sprach Klartext: „Es kommt darauf an, tiefer in die Probleme einzudringen, die Situation frei von jedem Wunschdenken einzuschätzen. Das verlangt in erster Linie eine sachlich-nüchterne Analyse der Ursachen, Prozesse und Ergebnisse, aller Faktoren, die zur Vorwärtsentwicklung an dem einen und zum Zurückbleiben an einem anderen Abschnitt führen. Nur wenn wir marktgerecht produzieren, wenn wir in Qualität und Kosten den Weltstand erreichen, können wir mehr importieren. Nur dann kann unser Lebensstandard schrittweise weiter steigen.“

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Für meine Betriebszeitung erfand ich die „Streitgespräche“ (weil es die Talkshow noch nicht gab), in denen ich aktuelle Probleme der neuen ökonomischen Politik aufwarf und am Beispiel des eigenen Betriebes kontrovers diskutierte

Da waren sie, die Begriffe Markt, Kosten, Qualität, Weltniveau usw., die über Jahre zugunsten einer „Tonnenideologie“, in der es nur um Stückzahlen und ähnliche Größenordnungen ging, die Augen vor den Realitäten verkleistert hatten. Das Umdenken nahm bis „nach oben“ einen langen Zeitraum in Anspruch. Damals sprach ich mit einem Generaldirektor der Textilindustrie und fragte ihn, warum er nicht die von vielen Frauen gewünschten Hosenanzüge fertigte, die damals im Westen modern wurden. Die Antwort – die Zahlen habe ich nicht mehr genau im Kopf – verblüffte mich: „Wir machen im Jahr 500.000 Jacken und 500.000 Hosen. Das sind zusammen eine Million Stück. Wenn wir Hosenanzüge liefern würden, die aus Jacke und Hose bestehen, wären es insgesamt nur 500.000. Das nimmt mir da oben keiner ab.“

Weltniveau-Erzeugnisse aus der DDR

Während Moskau unter dem zwischenzeitlich an die Macht geputschten Hardliner Leonid Breschnew sich weigerte, Ulbrichts neue ökonomische Politik im sozialistischen Lager, also dem RGW-Bereich, zu propagieren, verzeichnete die DDR-Volkswirtschaft erste größere Fortschritte. Von 1964 zu 1965 nahm des Nationaleinkommens um fünf Prozent zu, die Arbeitsproduktivität um sechs und das Bruttoeinkommen um vier Prozent. Industriezweige wie Schiff-, Maschinen- polygraphischer Maschinenbau hatten hohe Exportrraten, Chemie-, Kali- und andere Erzeugnisse waren weltweit gefragt. Die Konsumgüterindustrie folgte, so dass bis Ende der Sechzigerjahre auch viele Engpässe auf dem Binnenmarkt überwunden waren, weil die privaten und halbstaatlichen Betriebe mehr Möglichkeiten für ihre Entfaltung erhielten.

Wie hart die Gegensätze zwischen Ostberlin und Moskau waren, zeigt eine Feststellung Ulbrichts auf der Internationalen  wissenschaftlichen Session  100 Jahre „Das Kapital“ 1967 in Berlin: „Es wurde wenig beachtet, dass der Sozialismus sich auf seiner eigenen Grundlage entwickelt. Die Bürde der kapitalistischen Vergangenheit erschwert diese Einsicht. Deshalb wurden häufig die Kategorien der sozialistischen Ökonomik, die formal den Kategorien der kapitalistischen Ökonomik ähnlich sind (Geld, Preis, Gewinn usw.) als unvermeidliches ´Übel´ betrachtet, deren Wirksamkeit überwunden werden muss.“ Zudem hob er noch die „eigenverantwortliche Planung und Wirtschaftsführung der sozialisitischen Warenproduzenten“ hervor, was den Sowjets vollends gegen den Strich ging. KPdSU-Chef Breshnew, ein hartleibiger Apparatschik, würgt nicht nur in der Sowjetunion die Tauwetterperiode und die halbherzig betriebene Entstalinisierung ab, verhasst sind ihm auch alle Reformansätze in den sozialistischen Satellitenländern.

„Kahlschlagplenum“ gegen liberale Tendenzen

Vielleicht kann man Apels Tod nicht ohne das wenige Tage danach stattgefundene 11. Plenum des ZK der SED sehen, das eigentlich dem Perspektivplan der Volkswirtschaft bis 1970 gewidmet sein sollte und durch Honeckers Rede schließlich zu einer Abrechnung mit Ulbrichts liberaler Politik wurde. Erich Honecker nutzte seinen ersten großen Aufritt in seiner Funktion als zweiter Mann der SED-Führung zum Schlag gegen Ulbricht. Er hatte bereits eine ganze Jahresproduktion an DEFA-Filmen verboten und  die zunehmend kritische Kunst als dekadent und prokapitalistisch diffamiert. Doch die Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur, denen er einen „spießbürgerlichen Skeptizismus ohne Ufer“ unterstellte, war nur der Vorwand, um gegen die Liberalisierungen im Bereich der Wirtschaft vorzugehen und den schwindenden Einfluss des Parteiapparetes rückgängig zu machen.

Zitat Honecker: „Im Namen einer ´abstrakten Wahrheit´ konzentrieren sich diese Künstler auf die Darstellung von angeblichen Mängeln und Fehlern in der Deutschen Demokratischen Republik. Einige Schriftsteller sind der Meinung, dass die sozialistische Erziehung nur durch die summierte Darstellung von Mängeln und Fehlern erfolgreich sein kann. Sie bemerken nicht, dass die Wirkung ihrer Kunstwerke nach rückwärts zerrt und die Entwicklung des sozialistischen Bewusstseins der Werktätigen hemmt.“

Honeckers Pakt gegen Ulbricht

Honecker versetzte eingangs seiner „Kahlschlag“-Rede der Wirtschaftsreform einen offensichtlichen Seitenhieb, zumal Apel als sein größter Gegenspieler nicht mehr antworten konnte. Er forderte bei der „Ausnutzung der ökonomischen Gesetze, der Erarbeitung und Anwendung ökonomischer Methoden der Planung und Leitung, der wissenschaftlich begründeten Führungstätigkeit der sozialistischen Wirtschaft, die Zusammenarbeit mit der sowjetischen Bruderpartei zu vertiefen.“ Das bedeutete, sich den Auffassungen Breschnews anzuschließen, der von den Reformen in der DDR nichts hielt und Ulbrichts Erläuterungen als „Belehrungen“ aus Ostberlin abtat.

Honecker erinnerte auf dem 11. Plenum an den Besuch Breschnews drei Wochen zuvor in Ostberlin und fügte hintersinnig hinzu, „bei dem es auch eine übrigens sehr erfolgreiche Jagd gab“. Der Hintergrund sollte sich später offenbaren. Da Ulbricht kein Jäger war, wurde Honecker zum Jagdbegleiter Breschnews in der Schorfheide, wo er einen Pakt mit dem Sowjetmachthaber gegen Ulbricht schloss, der sich – auch auf Grund eigener Probleme in der sowjetischen Wirtschaft – allerdings erst fünf Jahre später mit Ulbrichts Sturz auszahlen sollte.

Apel von den Sowjets ausgeschaltet

Im Nachhinein wird deutlich, dass die Ablösung von Kreml-Chef Chruschtschow 1964 für die DDR unangenehmere Konsequenzen hatte, als man zunächst glauben mochte. Der stockkonservative Leonid Breschnew lehnte überhaupt Reformen in seinem Machtbereich ab. Im September 1965 bekam Apel in Moskau das Misstrauen bei den Wirtschaftsverhandlungen zu spüren. Seine Gesprächspartner blieben mit ihren Zusagen weit hinter den Lieferwünschen der DDR bei Erdöl und Walzstahl zurück. Apel kehrte ergebnislos nach Ostberlin zurück.

Es folgte ein Blitzbesuch Breschnews Ende November in Berlin, bei dem die DDR-Führung klein beigeben und die sowjetischen Vorgaben für den Handelsvertrag akzeptieren musste. Auf Wunsch der Sowjets war Apel bei diesen Verhandlungen ausgeschaltet worden. Zudem war sein Vorschlag für einen neuen Fünfjahrplan von der reformfeindlichen Mehrheit im Politbüro abgeschmettert worden. Hier schien auch Ulbrichts Macht an ihre Grenzen zu stoßen, wollte er sein Amt als Parteichef nicht gefährden. War das schon Apels Todesstoß?

Honeckers Pro-Moskau-Rede

Auch in Sachen Volkswirtschaft brachte es die Fraktion der Reformgegner während des Dezember-Plenums auf den Punkt. Im Gegensatz zu Apel, der in den Kürzungen sowjetischer Lieferungen große Nachteile für die DDR erkannte und daher auch nicht auf die höheren Moskauer Forderungen nach mehr Schiffen, Maschinen, Konsumgütern und Lebensmitteln usw. eingegangen war, forderte Honecker eine Zunahme der Exporte in die UdSSR. Seiner Ansicht nach stellte das langfristige Handelsabkommen zwischen der DDR und der UdSSR „ein großes Aktionsprogramm für die Werktätigen der DDR dar“. Es müsse von den Leitern der Staats- und Wirtschaftsorgane als erstrangige Aufgaben betrachtet und termingemäß und in der notwendigen Qualität erfüllt werden. Solchen Aussagen hätte es mit Erich Apel als Chef der DDR-Plankommission angesichts der realen ökonomischen Verhältnisse nicht geben können und sicher auch nicht gegeben.

Im Gegensatz zu Honeckers Forderungen hatte das Moskauer Misstrauen gegenüber der DDR zu unregelmäßigen und sogar stagnierenden Exporten von Rohstoffen in die DDR geführt. Groteske Engpässe und Disproportionen auf vielen Gebieten der Wirtschaft waren die Folge. Einerseits verlangt Breshnew immer mehr Schiffe, Eisenbahnwaggons und Konsumgüter, auf der anderen Seite hielt sich die Sowjetunion selbst nicht an die vereinbarten Rohstofflieferungen. Breshnew zwang die DDR, sich an der Errichtung von neuen Erdölleitungen, Fabriken und Raffinerien in seinem Land finanziell zu beteiligen.

PolÖkDEDRIm letzten Jahr seines Wirkens erschien mit diesem Ulbrichts Vermächtnis, desse Halbwertszeit nach Monaten beziffert werden kann. In seiner Trauerrede zu Ulbrichts Tod 1973 erwähnte  Honecker mit keinem Wort dessen Verdienste um die Volkswirtschaft der DDR

Nach Apels Tod erinnerten sich viele im Land an den ZK-Sekretär für Wirtschaft Gerhard Ziller, der fast auf den Tag genau acht Jahre zuvor in seiner Wohnung am Berliner Majakowskiring in Pankow mit der Dienstpistole seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. Zusammen mit den Politbüromitgliedern Ernst Wollweber, Karl Schirdewan und einigen anderen führenden Funktionären hatte er mit den Sturz Ulbrichts vorbereitet, der Jahre vor dem Mauerbau noch die harte zentralistische Linie Moskaus vertrat und vor allem in der gewaltsamen Kollektivierung der Landwirtschaft den Unmut vieler führender Genossen herausgefordert hatte. Das Komplott wurde durch die Stasi – wenngleich Wollweber deren Chef war und nach ihm übrigens Mielke an die Spitze rückte – aufgedeckt und durch Ulbricht mit Funktionsverlusten der „Revisionisten“ geahndet.

Der „Prager Frühling“ in der CSSR, der einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz anstrebte und 1968 im Sinne der Breschnew-Doktrin von den eigenen „Verbündeten“ gewaltsam niedergschlagen wurde, entfaltete ebenfalls seine Wirkung gegen die Wirtschaftsreformen in der DDR. Angeblich war er das Beispiel dafür, wohin eine Marktwirstchaft im Ostblock führen würde – direkt in die Arme des Gegners. Ulbricht war gewarnt. In der DDR hätte die Sowjetarmee nicht einmarschieren müssen, sie war bereits mit mehr als einer viertel Million Soldaten im Land.

Reformer lebten gefährlich in der DDR

Wenn man die Geschichte der DDR überblickt, so scheinen Reformer grundsätzlich gefährlich gelebt zu haben. Dem Absturz von Werner Lamberz, unter Honecker im Politbüro für die Medienpolitik zuständig, mit einem Hubschrauber 1976 in Libyen, ging eine Politik voraus, in der er den verkrusteten Strukturen des Apparates eine durchschaubare, offene Diskussion gegenüberstellen wollte. Vor Journalisten sagte er: „Wir brauchen nicht hochtrabende Worte, sondern überzeugende Argumente. … Unsere gesamte politische Massenarbeit muss auf die Bedürfnisse und Gedanken der Bürger gerichtet sein. … Wir müssen Antworten auf alle Fragen geben, die das Leben stellt.“ Insgeheim wurde er als „Kronprinz“ Honeckers und gleichsam als Hoffnungsträger gehandelt.

Die Reformen wurden nach Apels Tod weniger energisch und mit viel Gegenwind fortgesetzt. Sie gingen mit Ulbrichts Sturz 1971 zu Ende. Der in die zweite Reihe verbannte Parteiapparat, dem Ulbricht mehrfach die Fähigkeit zur Erneuerung der Volkswirtschaft abgesprochen hatte, übernahm wieder das Zepter. Günter Mittag hatte endgültig Seiten gewechselt und zunächst in die Regierung versetzt, bis er drei Jahre später Honeckers getreuer Wirtschafts-Paladin wurde, dessen geschönte Monats-Statistiken zur angeblichen Entwicklung der Volkswirtschaft dortselbst Kopfschütteln hervorriefen. Zahlreiche Vertreter eines modernen Managements – in der DDR als „sozialistische Wirtschaftsführung“ bezeichnet – verschwanden unter ihm in der „Versenkung“.

Eine „Einheit“ hat es nie gegeben

Zu Honeckers ersten Gefälligkeiten gegenüber Moskau gehörte die Beseitigung der von Breschnew lange schon kritisierten Privatbetriebe in der DDR, indem mehr als 11.000 private und halbstaatliche Unternehmen, die fast ein Drittel der Dinge des täglichen Bedarfs produzierten und unentbehrliche Lieferanten für Finalproduzenten waren, enteignet wurden. Hinzu kam ein überteuertes Wohnungsbauprogramm, das die Schulden immens in die Höhe trieb. Die von Honecker deklarierte „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ hat es in der DDR in Hinblick auf die Vernachlässigung und den Raubbau an der eigenen Volkswirtschaft nie gegeben.

Ebenso wie Ziller ist Erich Apel an den verkrusteten Machtstrukturen zerbrochen. Eine Entwicklung, die den Marktmechanismen folgt und von einem hohen Maß an kreativer Selbstbestimmung getragen wird, hätte den erst 1968 in die Verfassung aufgenommenen Führungsanspruch der SED in Frage gestellt. Nur mit der Überwindung des gesamten Systems, so wie 1989/1990 erfolgt, waren neue Wege gangbar.

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Modrows Bittgang nach Bonn(ossa)

Nein, er musste nicht tagelang im Büßerhemd vor dem Tor warten, bis sich Papst (Gregor VII.) Kohl erbarmte, den Bann über (Heinrich IV.) Modrow zu lösen. Jeder wollte etwas anderes. Kohl die rasche Einheit, möglichst noch vor den nächsten Wahlen, die er ohne diese politisch kaum überstanden hätte, und Modrow eine milliardenschwere solidarische Hilfe, um eine erneute Zahlungsunfähigkeit der DDR abzuwenden. Immerhin hatte schon Franz Josef Strauß die DDR 1982 mit zwei Milliarden-Krediten  vor der Zahlungsunfähigkeit gerettet.

Der offizielle Besuch Erich Honecker 1987 war mir noch gut in Erinnerung, da ich ihn vor Ort miterlebt hatte. Das große Protokoll mit Motorradeskorte vom Flughafen bis nach Bonn, das gemeinsame Abschreiten der Ehrenformation der Bundeswehr vor dem Kanzleramt durch Kohl und Honecker, das Intonieren der Hymnen der Bundesrepublik und der DDR, die prunkvollen Festtafeln…

Das alles fiel beim Bittgang von Hans Modrow, dem Regierungschef der DDR, am 13. Und 14. Februar 1990 nach Bonn weg. Das Protokoll wurde auf der Ebene eines Arbeitsbesuches gehalten, ähnlich wie beim Kohl-Besuch im Dezember in Dresden oder beim gegenseitigern Besuch der Regierungschefs beider deutscher Staaten, Willy Brandt und Willi Stoph, 1970 in Erfurt und Kassel.

Kohls taube Ohren

Alles in allem beschränkte sich der zweitägige Besuch auf ein einstündiges Gespräch zwischen Helmut Kohl und Hans Modrow. Letzterer legte die Karten offen auf den Tisch. In der DDR bestehe eine sehr komplizierte Lage, die durch eine rasche Destabilisierung der Wirtschaft gekennzeichnet sei. Die DDR sei mit fast 40 Milliarden D-Mark verschuldet. Aber das wusste die Bundesregierung längst. Täglich verließen bis zu 3.000 DDR-Bürger den Osten in Richtung „goldener“ Westen. Wenn die D-Mark nicht zu uns kommt, gehen wir zur D-Mark war ein Argument, das möglicherweise nicht in der DDR erfunden worden war.

Das alles zu ändern, bedurfte der solidarischen Hilfe. Modrow erinnerte seinen Gastgeber an dessen Versprechen im Dezember in Dresden, der DDR großzügig Hilfe zu leisten und damit „ein Signal der Hoffnung“ für die DDR-Bürger zu setzen. Die Hilfe für eine erste ökonomische Stabilisierung belaufe sich auf etwa fünfzehn Milliarden Mark, verkündete Modrow erwartungsvoll. Doch auf diesem Ohr war Kohl taub. Was konnte der schnellen Einheit dienlicher sein als eine bankrotte DDR?

Kohl auf dem hohen Ross

Nach seinem erfolgreichen Gespräch mit Gorbatschow, bei dem Kohl grünes Licht für die deutsche Einheit erhielt, schien Kohl nicht mehr interessiert, Modrow gegenüber sein Versprechen einzulösen. Am 10. Februar erst hatte er in Moskau vor der internationalen Presse verkünden können: „Generalsekretär Gorbatschow und ich stimmen darin überein, dass es das alleinige Recht des deutschen Volkes ist, die Entscheidung zu treffen, ob es in einem Staat zusammenleben will.“  Rigoros verfolgte er von nun an seinen Plan, die DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes in die BRD einzuverleiben. Außerdem würde in der DDR vier Wochen später gewählt, dann würde es vermutlich andere Gesprächspartner geben. Einziges Zugeständnis der Modrow-Regierung gegenüber war die Bildung einer Expertenkommission zur Vorbereitung einer Währungs- und Wirtschaftsgemeinschaft der beiden deutschen Staaten. Dies ließe sich schneller in die Tat umsetzen, wenn genügend Druck im ostdeutschen Kessel herrschte.

Eine marode DDR ist schneller anzuschließen

Was konnte Kohl gelegener kommen als die Übersiedlung Tausender Bürgerinnen und Bürger aus der DDR in den Westen, die wachsende Unzufriedenheit über die Ost-Mark, die Destabilisierung der Ost-Industrie, deren Produkte durch Westimporte kaum noch Absatz fanden, der Zusammenbruch der Ost-Exporte in die kriselnden Regionen des Warschauer Paktes usw., um die Ostdeutschen zum raschen Beitritt zur BRD zu bewegen? Er würde diese Destabilisierung, vom Bundeskanzleramt mit Horrormeldungen befeuert, für sich nutzen. Aktionen von DDR-Bürgerrechtlern, Intelektuellen, Parteien, Organisationen und Verbänden wie jene „Für unser Land“, die mit mehr als einer Million Unterschriften für Erhalt und Erneuerung der DDR eintraten, wurden angesichts der großen wirtschaftlichen und sozialen Probleme marginal.

Für Kohl war der Besuch aus der DDR ohnehin nur ein propagandistischer Feldzug, um den Briten, Franzosen und anderen Europäern, die einer deutschen Einheit skeptisch gegenüberstanden, zu beweisen: Seht her, da kommt der Regierungschef aus Ostberlin mit 17 Ministern nach Bonn, um mit uns die Einheit vorzubereiten! Vor einigen hundert Journalisten pries der Kanzler die nationale Verantwortung, von der die Gespräche bestimmt gewesen seien. Selbst Modrow bezeichnete die Gespräche trotz aller Widrigkeiten höflich als konstruktiv.

Behandlung Modrows „beschämend“

Modrow und die Mitglieder seiner Delegation – und natürlich uns Journalisten – irritierte, dass von Bonner Seite nichts Schriftliches über die nächsten Schritte in Richtung deutsche Einheit vorgelegt wurde. Modrow kritisierte: Allein der Gedanke von einem bloßen Anschluss der DDR an die BRD sei noch kein politisches Konzept. Schließlich habe auch die DDR Wesentliches in eine künftige Einheit einzubringen. Wenige Monate später wusste er, das „politische Konzept“ hieß Anschluss.

Noch während des Besuchs in Bonn sprachen Mitglieder der DDR-Abordnung – darunter die Vertreter des Runden Tisches – von einer Brüskierung der DDR durch die Bundesregierung. Minister Matthias Platzeck von der ostdeutschen „Grünen Partei“ kritisierte die schulmeisterliche Verhandlungsführung seitens der Kohl-Regierung. „Die durch Kohls grobschlächtiges Auftreten brüskierte DDR-Delegation“ (Süddeutsche Zeitung) erfuhr nach ihrer Heimkehr in der DDR Anerkennung und Zuspruch, zumal sie in Bonn „wie Bittsteller auf dem Sozialamt“ abgefertigt worden seien.

Vor einer Destabilisierungspolitik gegen die DDR und einem „Anschluss“ der DDR an die BRD wurde wenige Tage später im Bundesrat gewarnt. Die Mehrheit der westdeutschen Länderchefs zeigte sich mit den Ergebnissen der Gespräche zwischen Kohl und Modrow in Bonn unzufrieden. Die Behandlung der DDR-Regierungsdelegation wurde als „beschämend“ verurteilt.

„Ich werde nicht auf Knien bitten“

Aus Bonn zurück, bedauerte Modrow am Runden Tisch nochmals, dass er keine Zusage für die gewünschte solidarische Hilfe mitbringen konnte. „Ich kann die Enttäuschung vieler Bürger der DDR verstehen, die sich fragen, ob sie nun keine Brüder und Schwestern mehr sind. Allerdings mehr als sich immer wieder bemühen, kann meine Regierung nicht. Ich werde nicht auf Knien um einen solchen solidarischen Beitrag bitten.“

Selbst in bundesdeutschen Kreisen haderte man mit den Vorstellungen Kohls. Der Kanzler helfe der DDR nicht, sondern erpresse sie, erklärten die Grünen. Das Angebot zur sofortigen Wirtschafts- und Währungsunion mit der DDR sei eine Aufforderung zur bedingungslosen Kapitulation. Dieser Vorschlag bedeute nichts anderes als den Anspruch, der DDR von heute das politische und wirtschaftliche System der Bundesrepublik überzustülpen.

Aber es gab auch andere Stimmen, zum Beispiel vom „Demokratischen Aufbruch“ in der DDR, der sich Anfang Februar mit der CDU im Wahlbündnis „Allianz für Deutschland“ verbündet hatte und die baldige Aufnahme von Verhandlungen über eine Währungsunion zwischen der BRD und der DDR befürworte, wie deren Pressesprecherin Angela Merkel erklärte.

Bedingung: Marktwirtschaft

Übrigens fanden während des Besuchs in Bonn viele weitere Gespräche statt, an denen die Gäste aus der DDR teilnahmen. Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie Tyll Necker beispielsweise hob das starke Interesse von BRD-Unternehmen an Kapitalanlagen in der DDR hervor und erklärte, dass zehntausende Firmen bereit stünden. Die Bedingung: In der DDR müsse rasch die Marktwirtschaft eingeführt werden. Alles weitere regelte alsbald die Treuhandanstalt.

Auf die gut ausgebildeten DDR-Facharbeiter, die keineswegs hinter denen in der BRD zurückstünden, verwies der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Klaus Murmann. Wenn man dieses Potential mit einer regen Investitions- und Innovationstätigkeit in der Industrie verbinde, könne die DDR ein Wirtschaftswunder erleben. Die gerade etwas kränkelnde bundesdeutsche Wirtschaft lechste nach der Übernahme des Ostens als verlängerte, kostengünstige Wirtschaft mit 17 Millionen neuen Konsumenten.

Kohl kontra Mehrheit

Zur selben Zeit, als die Gespräche in Bonn stattfanden, vereinbarten die Außenminister der DDR, der BRD, der Sowjetunion, der USA, Großbritanniens und Frankreichs zum Auftakt der „Zwei- plus Vier-Gespräche“ in Ottawa, dass sie die äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit besprechen würden. Das würde auch Fragen der Sicherheit der Nachbarstaaten einschließen.

Während zum Beispiel Helmut Kohl erklärte, eine Neutralität Gesamtdeutschlands komme für die Bundesrepublik nicht in Frage, wünschte eine deutliche Mehrheit der Deutschen in Ost und West nach einer Vereinigung keine Bündnisbindung mehr. Bei einer Umfrage der Wickert-Institute sprachen sich 64 Prozent für eine Neutralität aus. In der BRD stimmten 58 Prozent, in der DDR 92 Prozent für Bündnislosigkeit. Für eine Zugehörigkeit zur NATO hätten nur 42 Prozent der Bundesbürger und sieben Prozent der DDR-Bürger votiert.

Gorbatschow billigte deutsches NATO-Bündnis

Das Thema Bündnis blieb in jenen Tagen noch ungelöst, zumal sich der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse gegen westliche Vorstellungen wandte, dass ein vereintes Deutschland Mitglied der NATO sein sollte. Nach einer Begegnung mit Außenminister Dietrich Genscher in Ottawa erklärte er, es gebe keine Bedingungen, unter denen die UdSSR eine NATO-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands akzeptieren werde. Zu jener Zeit war selbst für Gorbatschow eine „Ausdehnung der NATO nicht akzeptabel“.

Erst am 15. Juli 1990 gab Gorbatschow bei einer neuerlichen Begegnung mit Kohl seine Zustimmung, dass Deutschland Mitglied der NATO bleiben könne, der Geltungsbereich jedoch nicht auf die DDR übertragen werden dürfe, solange dort noch Sowjettruppen anwesend seien, also bis 1994. Demnächst werde nach Mitteilung Gorbatschows mit dem Abschlussdokument der „Zwei- plus Vier-Gespräche“, das am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnet wurde,  auch die Viermächteverantwortung für Deutschland aufgehoben. Kohl hatte sein Ziel erreicht.

Modrows „unwesentliche“ Bemerkungen

Anfang März ließ der Kanzler die Katze aus dem Sack, als er in einem Interview für die BILD-Zeitung zu einer Forderung Modrows, den sozialen Besitzstand der Bürger der DDR zu sichern, sagte: „In zehn Tagen wird in der DDR gewählt. Dann gehört die Amtszeit Modrows der Vergangenheit an. Ich finde nicht so wesentlich, was Modrow jetzt sagt.“

Am 18. März 1990 gelangte in der DDR die Ost-CDU in Regierungsverantwortung. Nichts lief in Ostberlin fortan mehr ohne die Berater aus Bonn, die im Grunde dem neugewählten Ministerpräsidenten Lothar de Maiziere den Weg für den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes vorgaben. Nach vollzogener Einheit hatte auch de Maiziere seine Schuldigkeit getan und durfte gehen.

Siehe auch unter „25 Jahre Mauerfall“:

War die Einheit ein Staatsstreich? – Wie ein demokratisches Parlament die Verfassung brach

und

Die Nacht, als die DDR unterging     

Mehr über die Jahre der DDR in
“Geschichten aus 14.970 Tagen und einer Nacht”
(als eBook bei Amazon, Kindle-Edition)

Tietelbild Geschichten

               

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In die Ablage: Der Fall Brunner

Inzwischen herrscht wohl Klarheit: Der deutsche NS-Kriegsverbrecher Alois Brunner soll nach jüngster Mitteilung des Simon-Wiesenthal-Zentrums im Jahr 2009 im Alter von 98 Jahren in Syrien gestorben sein. Ein lange gut gehütetes Geheimnis über den Aufenthaltsort des Eichmann-Stellvertreters scheint gelüftet. Das könnte Spekulationen nähren, dass Brunners Auslieferung an die DDR 1989 kurz bevor gestanden hätte. Auf der einen Seite war Syrien der DDR für umfangreiche Handelsbeziehungen, die vom Bau von Zementwerken über umfangreiche Waffenlieferungen bis hin zu MIG-Kampfflugzeugen für den Krieg gegen Israel, reichen, dankbar. Andererseits wollte Honecker, der im Oktober 1982 von Hafiz al-Assad, dem Träger des „Großen Sterns der Völkerfreundschaft“ der DDR, mit allen Ehren empfangen wurde, seine guten Syrien-Beziehungen nicht beeinträchtigen.

Doch zu Hause saß ihm das Ehepaar Serge und Beate Klarsfeld im Nacken. Seit den Sechzigerjahren unterstützte die DDR das Paar bei der Suche nach untergetauchten NS-Kriegsverbrechern. Die Erfolge blieben nicht aus, so ging die Enttarnung des „Schlächters von Lyon“ Klaus Barbie auf das Konto des französisch-deutschen Paares. Mitte der Achtzigerjahre waren die Klarsfelds erneut bei der Stasi vorstellig. Diesmal ging es um eine absolute Topgröße des „Dritten Reichs“, um Alois Brunner. Der Hauptsturmführer war engster Mitarbeiter von Adolf Eichmann gewesen, dem Organisator des Holocaust. Die Klarsfelds nannten Syrien als Aufenthaltsort Brunners und schlugen vor, diesen per Flugzeug nach Ost-Berlin zu bringen und dort zu verhaften.

SyrienIfoMinVor dem Honecker-Besuch 1982 ein Gespräch in Damaskus bei Assads Informations-minister Iskander über Freundschaft, Zusammenarbeit und andere Belanglosigkeiten. Eine Frage nach dem Aufenthalt Brunners wäre einem Fauxpas gleichgekommen (Der Autor links im Foto)

Der spektakuläre Plan versprach der DDR-Führung zwar einen internationalen Respekt, würde aber möglicherweise handfeste wirtschaftliche Interessen stören. Was folgte, war deshalb eher unspektakulär: Hin und her gingen Vermerke, Telefonate, Briefe. Ein Auslieferungsgesuch wurde aber nie gestellt. Erst 1988 kam Bewegung in die Sache, doch es sollten weitere zwei Jahre, eingeschlossen der Sturz Honeckers, vergehen, bis DDR-Außenminister Markus Meckel das Auslieferungs-Ersuchen nebst Haftbefehl an den DDR-Botschafter in Damaskus schickte.

Mehrere Zeitschriften erweckten in den vergangenen Jahren den Anschein, als wäre Brunner, der für den Tod von 128.500 Juden verantwortlich ist, tatsächlich an die DDR ausgeliefert worden, wenn diese noch ein wenig länger existiert hätte. Doch das ist Unsinn. Die Akten des MfS sowie Protokolle des DDR-Außenministeriums und der Generalstaatsanwaltschaft belegen das Lavieren der DDR-Oberen, sich um ein konkretes Ergebnis zu drücken, um zweifelhafte Freundschaften nicht zu gefährden. Ein Weiterbestehen der DDR hätte eine Auslieferung des NS-Kriegsverbrechers Brunner nicht befördert.

Zur Chronologie des Auslieferungsersuchens:

  1. Januar 1988: Bei seinem Staatsbesuch in Frankreich wird Erich Honecker auf einem Empfang von Beate Klarsfeld, die sich für die Aufklärung von NS-Verbrechen engagiert, im Zusammenhang mit Brunners Aufenthalt in Damaskus angesprochen. Honecker ermutigt die Journalistin, sich mit dem DDR-Außenministerium in Verbindung zu setzen.
  2. Januar 1988: Unmittelbar vor dem Besuch von Beate Klarsfeld im Außenministerium gibt es laut Hausmitteilung Bedenken, dass sich für die DDR politische Konsequenzen aus einem Auslieferungsantrag ergeben könnten.
  3. Januar 1988: Beate Klarsfeld schildert im DDR-Außenministerium ihre Bemühungen, Brunner einer Strafe zuzuführen und übergibt eine Dokumentation der Verbrechen Brunners. Sie verweist auf Auslieferungsersuchen aus Österreich (1961) sowie aus der BRD (1984 und 1986). Beate Klarsfelds Vorschlag: Brunner ohne offizielles Ersuchen mit einer Interflug-Maschine nach Berlin abzuschieben und in der DDR zu verurteilen.
  4. März 1988: DDR-Außenminister Oskar Fischer informiert Erich Honecker über den Klarsfeld-Besuch und teilt mit, dass Brunner auf der Fahndungsliste der DDR stehe. Von einem französischen Gericht sei er in Abwesenheit bereits zum Tode verurteilt worden. Auch in der CSSR und durch Interpol werde ermittelt. Fischer schlägt vor, dass die DDR auf diplomatischem Weg in Erfahrung bringe, „ob sich der Nazi- und Kriegsverbrecher Alois Brunner alias Georg Fischer in Syrien aufhält“. Honecker quittiert: „Einverstanden“.
  5. März 1988: Das Außenministerium teilt dem Generalstaatsanwalt der DDR mit, dass die DDR-Botschaft in Damaskus beauftragt sei, die syrische Seite zu fragen, ob sich Brunner im Land aufhalte. Inzwischen haben mehrere Zeitschriften und Zeitungen der BRD Interviews mit Brunner veröffentlicht.
  6. Juni 1988: Der DDR-Botschafter in Paris erhält den Auftrag, Beate Klarsfeld darüber zu informieren, dass die DDR alle erforderlichen Schritte unternehme, Brunners habhaft zu werden. Auf eine Anfrage habe die syrische Seite mitgeteilt, dass sich Brunner nicht in Syrien aufhalte.
  7. Juli 1988: Serge Klarsfeld informiert in der DDR-Botschaft in Paris darüber, dass der französische Justizminister einen internationalen Haftbefehl gegen Brunner erwirkt habe. Klarsfeld vertritt die Ansicht, dass es die beste Lösung wäre, „von syrischer Seite die Abschiebung Brunners in die DDR zu erreichen“. Das sei aber nicht so einfach, da nach neueren Recherchen Brunner vor dem Machtantritt Assads für den Sicherheitsdienst Syriens tätig gewesen sei. Die französischen Sicherheitsbehörden hätten außerdem ermittelt, „dass Brunner eine gewisse Zeit lang auch für BRD-Stellen in Syrien gearbeitet hat“.
  8. Juli 1988: Die französische Botschafterin in Ostberlin, Joëlle Timsit, informiert im DDR-Außenministerium, dass gegen den Nazi-Kriegsverbrecher Alois Brunner in Frankreich ein Verfahren wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit eingeleitet wurde, weil das Todesurteil von 1954 verjährt sei. Auch Frankreich gegenüber habe Syrien den Aufenthalt Brunners geleugnet.
  9. Januar 1989: Serge Klarsfeld teilt im DDR-Außenministerium mit, um Syrien eine öffentliche Auslieferungsprozedur zu ersparen, sei man in Frankreich einverstanden, wenn Brunner in die DDR abgeschoben und dort verurteilt würde. Eine Strafverfolgung Brunners durch die DDR würde auch eine positive Resonanz des französischen Präsidenten Mitterand finden.
  10. Januar 1989: Die französische Botschafterin Joëlle Timsit erfährt im DDR-Außenministerium, dass eine Auslieferung Brunners bisher nicht beantragt werden konnte, da eine offizielle Antwort zur Frage nach dem Aufenthaltsort des Gesuchten ausstehe.
  11. Januar 1989: Außenminister Oskar Fischer informiert Erich Honecker darüber, dass nach Ansicht der französischen Botschafterin in der DDR sowie Serge Klarsfelds die reale Aussicht bestehe, dass Syrien Brunner mit einer Maschine der Interflug nach Berlin abschieben könne, um ein Auslieferungsverfahren zu umgehen. Fischer empfiehlt, den Generalstaatsanwalt anzuweisen, „die entsprechenden Maßnahmen zur Vorbereitung der Strafverfolgung Brunners für den Fall seines Eintreffens in der DDR einzuleiten“. Eine Festlegung, die nichts aussagt, aber die französische Seite beruhigt. Honecker quittiert mit „Einverstanden“.
  12. Februar 1990: Der neue Generalstaatsanwalt der DDR, Hans-Jürgen Joseph, stellt kurz nach Amtsantritt fest, dass die Anfragen an Syrien betreffs des Aufenthaltes von Brunner bislang nicht beantwortet wurden. Den Auslieferungsersuchen Frankreichs, Österreichs und der Bundesrepublik Deutschland sei das gleiche Schicksal beschieden.
  13. März 1990: Vom Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte wird gegen Brunner ein Haftbefehl erlassen.
  14. April 1990: Der Generalstaatsanwalt der DDR übermittelt Außenminister Oskar Fischer den „Entwurf einer Verbalnote, die in der Auslieferungsangelegenheit Alois Brunners an die Syrische Arabischen Republik übermittelt werden könnte“. In dem Schreiben wird auf der Grundlage des Vertrages zwischen der DDR und der SAR über den Rechtsverkehr in Zivil-, Familien- und Strafsachen und in Übereinstimmung mit der entsprechenden UNO-Resolution das Auslieferungsersuchen gestellt. Darin heißt es: „Der ehemalige SS-Hauptsturmführer Alois Brunner, alias Georg Fischer, alias Dr. Georg Fischer, geboren am 8. April 1912 in Rohrbrunn, Kreis Fürstenfeld, Österreich, vermutlich derzeitiger Aufenthaltsort: Damaskus, Rue Haddad Nummer 7, Syrische Arabische Republik steht unter dem dringenden Verdacht, in den Jahren 1942 und 1943 auf dem Territorium der heutigen Deutschen Demokratischen Republik maßgeblich an Verbrechen gegen die Menschlichkeit mitgewirkt zu haben. Er wird beschuldigt, als Angehöriger des Judendezernats IV B4 des faschistischen Reichssicherheitshauptamtes gemeinsam mit dem inzwischen zum Tode verurteilten SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann die Deportation jüdischer Bürger Berlins in Massenvernichtungslager des NS-Regimes veranlasst zu haben.“
  15. April 1990: Der Generalstaatsanwalt schickt das bestätigte Auslieferungsersuchen sowie den Haftbefehl an den neuen DDR-Außenminister Markus Meckel mit der Bitte um Weiterleitung auf diplomatischem Weg.
  16. Mai 1990: Außenminister Meckel schickt das Auslieferungsersuchen nebst Haftbefehl an den DDR-Botschafter in Damaskus Karl-Heinz Lugenheim mit der Bitte um Weiterleitung an den syrischen Justizminister.
  17. Mai 1990: Botschafter Lugenheim informiert, das Auslieferungsersuchen am 17. Mai gegen 17 Uhr an Justizminister Khaled al-Ansari mit den erforderlichen Erläuterungen übergeben zu haben. Al-Ansari wolle feststellen lassen, „ob sich Brunner tatsächlich in der SAR befindet und wo“.

Für die DDR, deren Ende bereits abzusehen war, endet damit das halbherzige Bemühen, einen Kriegsverbrecher zur Strecke zu bringen. Aber der Schein musste, schon wegen der guten Beziehungen zu Frankreich, gewahrt bleiben. Ob sich die DDR auf eine Festnahme und Verurteilung Brunners tatsächlich vorbereitet hatte, ist in diesem Zusammenhang belanglos. Nichts legt die Vermutung nahe, dass Brunner, der dem syrischen Regime in vielfältiger Weise zu Diensten war, tatsächlich an die DDR oder an ein anderes Land ausgeliefert worden wäre. Dafür waren die Beziehungen Brunners zum syrischen Geheimdienst und sein Wirken für deutsche Unternehmen im arabischen Land zu weit gediehen und die Beziehungen der DDR zu Assads Regime bis hin zu geheimer militärischer Zusammenarbeit viel zu sensibel für die ostdeutsche Seite, als dass man sie durch Brunner hätte auffliegen lassen.

 

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Blick auf eine Besatzungszeit

Im Jahr 1994 verließen mehr als eine halbe Million ehemalige Sowjetbürger in Uniform und in Zivil den Osten Deutschlands und damit das Territorium der ehemaligen DDR. Die größte jemals in Friedenszeiten außer Landes stationierte Streitmacht zog sich zurück. Ein solcher Abzug war in der Militärgeschichte beispiellos. Das militärische Zeremoniell im Treptower Park in Berlin am 31. August 1994 markierte das Ende der sowjetischen Militärpräsenz auf deutschem Boden. Präsident Boris Jelzin  und Bundeskanzler Helmut Kohl verabschiedeten die Westgruppe der russischen Streitkräfte in einem offiziellen Festakt im Berliner Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Am 1. September 1994 hat der letzte Oberkommandierende, Generaloberst Matwej Burlakow, vom Flugplatz Sperenberg aus das wiedervereinigte Deutschland verlassen.

Der erste Rotarmist hatte am 31. Januar 1945 bei Kienitz das heutige deutsche Territorium erreicht. Nach einer erbitterten Schlacht von 2,5 Millionen Soldaten, mit 6.250 Panzern, 41.600 Geschützen und 7.500 Kampfflugzeugen erzwang die Rote Armee am 8. Mai die bedingungslose Kapitulation. Der verheerendste Krieg in der Menschheitsgeschichte mit über 50 Millionen Toten war in diesem Teil der Welt zu Ende. Am 31. August 1994 hat der letzte in Deutschland stationierte russische Soldat nach genau 18.012 Tagen seit der deutschen Niederlage im Zweiten Weltkrieg das 1990 wiedervereinigte Land verlassen.

Die Besatzungsmacht

Am 9. Juni 1945 war die „Gruppe der sowjetischen Besatzungsstreitkräfte in Deutschland“ formiert worden. 1954 wurde mit der Souveränitätserklärung der UdSSR für die DDR das Wort „Besatzung“ gestrichen. Je nach politischer Großwetterlage gab es auch den Begriff der „Gruppe der zeitweilig in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräfte“ (GSSD) . Schließlich hieß es nach dem Zerfall des Sowjetimperiums nur noch „Westgruppe der russischen Streitkräfte“.

Für alle vier Siegermächte hatte es nur eine einzige gemeinsame Militärparade gegeben. Die fand am 7. September 1945 zwischen Brandenburger Tor und Reichstag statt und war auf sowjetischen Vorschlag zustande gekommen. Die Abschieds-Parade der Sowjetarmee fand am 11. Juni 1994 in Wünsdorf statt.

Dem Abzug vorausgegangen war die mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag politisch und rechtlich markierte Friedensregelung mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Vertrag, der am 15. März 1991 in Kraft trat,  beendete die Nachkriegszeit Deutschlands, einschließlich Berlins, sowie alle besatzungsrechtlichen Beschränkungen.

Die Truppenstärke

1945 bestand die sowjetische Besatzungsmacht in Ostdeutschland vor allem aus Formationen der Truppen der 1. Belorussischen und der 1. Ukrainischen Front, die – zusammen mit einigen Hunderttausend polnischen Soldaten – den Hauptanteil der Schlacht um Berlin getragen hatten.

Die sowjetische Besatzungsmacht war die größte und stärkste Gruppierung, die je ein Staat in Friedenszeiten außerhalb seines Territoriums unterhielt. Sie bildete den Kern der Ersten Strategischen Staffel der Warschauer Paktstaaten und stand den Hauptkräften der NATO in Europa direkt gegenüber.

Die Truppenstärke war stets ein Tabu. Zum Zeitpunkt des beginnenden Abzugs am 1. September 1991 wurde die Zahl mit 545.000 Personen angegeben. Diese Zahl setzte sich zusammen aus 340.000 Soldaten, der Rest waren Zivilangestellte und Familienmitglieder von Offizieren, Fähnrichen und länger dienenden Unteroffizieren. 1990 besuchten 70.000 Kinder dieser Familien eigene russische Schulen.

Die Standorte

Nach dem Kriegsende hatte die sowjetische Armee Berlin zunächst allein besetzt. Erst im Sommer 1945 waren laut Vereinbarungen der vier Siegermachte amerikanische, britische und französische Truppen in der ehemaligen deutschen Reichshauptstadt eingetroffen, um in den ihnen zugeteilten Sektoren Besatzungsfunktionen auszuüben.

Die Sowjetarmee war in Ostdeutschland an 276 Standorten untergebracht. Sie verfügte über 777 Kasernen und Lager, 40 Truppenübungsplätze, 30 Flug- und Hubschrauberplätze für rund 1.500 Flugzeuge und andere Objekte auf einer Fläche von 250.000 Hektar, also knapp 2,5 Prozent des DDR-Territoriums. Das entsprach einem fünf Kilometer breiten Korridor von Rostock über Berlin und Leipzig bis zur Südgrenze der DDR, also ein Achtel des DDR-Territoriums. Um die militärische Stärke auf dem  108.000 Quadratkilometern DDR zu verdeutlichen: 1989 standen etwa eine Millionen Mann der Sowjetarmee, der NVA, der Volkspolizei, des Geheimdienstes und der Kampfgruppen unter Waffen.

Die DDR kosteten die 40 Jahre Stationierung sowjetischer Truppen insgesamt 140 Milliarden Mark eigener Währung.

WerHinterlassenschaft der 20.Gardearmee  nach ihrem Abzug aus Deutschland im Jahr 1994. Die Fotos zu diesem Beitrag entstanden zwanzig Jahre später rund um den ehemaligen Flugplatz der Sowjetarmee in Werneuchen bei Berlin 

Wern

Die Elitetruppen

In Ostdeutschland waren stets Elitetruppen stationiert, gegen die sich die NVA wie eine Hilfstruppe ausnahm. Die 1. Gardepanzerarmee hatte ihre Divisionen in Grimma, Riesa und Dresden. Die 2. Gardepanzerarmee konzentrierte sich auf Perleberg, Schwerin, Stendal und Neustrelitz im Norden. Die 3. Stoßarmee (ihre Angehörigen hissten am 30. April 1945 die Siegerfahne auf dem Reichstag) konzentrierte sich auf Roßlau, Altengrabow, Neuruppin und Hillersleben. Die 8. Gardearmee (Hauptverteidiger von Stalingrad) lag in Halle, Ohrdruf, Naumburg und Jena. Die 20. Gardearmee bildete einen Ring um Westberlin mit Sitz in Potsdam, Bernau und Berlin. Die 16. Luftarmee war auf Zerbst, Ribnitz-Damgarten, Rechlin und Großenhain verteilt.

Die Bewaffnung

Die Anzahl der Waffen und militärischen Großgeräte betrug 123.000, das Kernwaffenarsenal umfasste 940 Raketen, 492 Geschütze und 80 Jagdbomber. Über 2,6 Millionen Tonnen Material darunter Munition, Treib- und Schmierstoffe usw. waren vorhanden. Der Abzug von Mannschaften und Technik in diesem Umfang hatte in der Militärgeschichte bis dahin noch nicht gegeben. Nach dem Abzug der russischen Armee 1994 waren rund 3.000 Grundstücke, zum Teil hoch kontaminiert, zurückgegeben. Allein die Munitionsbergung kostete mehr als anderthalb Milliarden DM.

Die Befehlshaber

Über die Jahre der Besatzung gab es 19 Oberkommandierende der sowjetischen Streitkräfte in Ostdeutschland. Der erste war der legendäre Berlin-Stürmer Marschall Georgi Shukow (1896-1974), der letzte, der den Rückzug befehligte, ist der 1935 geborene Generaloberst Matwej Burlakow. Wünsdorf, der Sitz des Oberkommandierenden südlich von Berlin, war eine wichtige Sprosse auf der Karriereleiter sowjetischer Militärs. Kommandierende stiegen nach ihrer Abberufung aus der DDR zu Verteidigungsminister, Oberbefehlshaber des Warschauer Vertrages, Stabschef der Sowjetarmee und in andere hohe Positionen auf.

Werneuchen (2)

Ab 1937 war Werneuchen Fliegerhorst der deutschen Luftwaffe. Das Areal wurde nach 1945 durch die Sowjetarmee erheblich ausgebaut, die Landebahn ist 2.500 Meter lang und heute zu einem großen Teil mit Solarzellen zur Energiegewinnung bestückt. Der Tower (oben) gehörte der 16. russischen Luftarmee, die ihn bis 1993 nutzte.

Werneuchen (1)

Der Machterhalt

Die Vereinigung von SPD und KPD wäre ohne Schützenhilfe der Sowjets nicht möglich gewesen. Viele Sozialdemokraten, die sich der Zwangsvereinigung widersetzten, landete in Lagern wie Sachsenhausen und Buchenwald, die die Sowjets von den Faschisten übernommen hatten und einige Jahre weiterführten. Ab 1945 betrieb der sowjetische Geheimdienst fünf Jahre lang fünf  „Speziallager“ in Ostdeutschland, in denen 43.000 Menschen nicht überlebten.

Auch über die Zulassung von Parteien und Organisationen entschied die sowjetische Militärkommandantur. Als die DDR im Juni 1953 durch den Arbeiteraufstand auf wackeligen Füßen stand, retteten sowjetische Panzer das Ulbricht-Regime. In Feuerstellung standen sie, als in Ungarn der Aufstand blutig niedergeschlagen wurde, in der CSSR ein demokratischer Sozialismus aufzukommen drohte und in Polen die „Solidarnosz“ zu einer Gefahr für das sozialistische Lager wurde. Erst seit Gorbatschows Wahl an die Spitze der KPdSU 1985 hielt sich die Sowjetarmee aus nationalen Auseinandersetzungen heraus.

Kunst und Kultur

Das Oberkommando in Wünsdorf sowie die sechs Armeen unterhielten je ein Gesangs- und Tanzensemble. Eine Tageszeitung sowie der eigene Radiosender „Wolga“ arbeiteten in Potsdam. Enge Kontakte zur Bevölkerung gab es nicht. Bei offiziell verordneten Freundschaftstreffen traten die Armee-Ensembles auf. Beim Treffen mit dem „Regiment nebenan“ durften sich NVA- und Sowjetsoldaten nach vorgeschriebenem Zeremoniell u.a. über die Erfüllung ihres Kampauftrages zur stetigen Gefechtsbereitschaft für den Sieg des Sozialismus und Kommunismus unterhalten, ohne Details auszuplaudern.

Das Kasernenleben

Das Leben der Sowjetsoldaten in den Kasernen war kein Zuckerschlecken. Sie lebten zusammengepfercht bis zu 20 Mann in einer Stube, jeder hatte nur ein Eisenbett und einen kleinen Nachttisch. Schleiferei fand bis zur Leistungsgrenze statt. Über das Essen sagte ein in den Westen desertierter Soldat: „Als Mittagessen gab es eine kleine Kelle Buchweizengrütze, Graupen oder Haferbrei, oft sehr schlecht gekocht, dass es schwer war, es hinunterzuwürgen. Nach dem Essen war man stets hungrig, trank Wasser, um das Leeregefühl im Magen loszuwerden.“

Auf dem Kasernengelände gab es gerade mal eine Teestube, oft aber keinen Tee. Radio gab es nicht. Entdeckte man bei einem Soldaten ein Transistorradio, wurde es eingezogen. Der Sender der sowjetischen Streitkräfte „Wolga“ mit Sitz in Potsdam war nur auf dem Kasernenhof zu hören. Viele Soldaten flüchteten angesichts von zwei Jahren Dienst ohne Urlaub und Ausgang in den Alkohol. Auf zwanzig bis dreißig Prozent wurde der Anteil der Alkoholabhängigen geschätzt. An Alkohol gelangte man mit Diebstahl und Schwarzhandel außerhalb der Kasernen. Vergewaltigungen deutscher Frauen, etwa 40 bis 60 Fälle pro Jahr, wurden stets unter den Teppich gekehrt, weil sie nicht in das Bild verordneter deutsch-sowjetischer Freundschaft passten. Im Durchschnitt gab es jedes Jahr 2.000 Straftaten, von denen viele durch das Ministerium für Staatssicherheit „bereinigt“ wurden, um keine antisowjetische Stimmung aufkommen zu lassen.

Werne  HangarWerneu StartbahnEhemalige Start- und Landebahnen. Auf einem Teil davon wird inzwischen Sonnenenergie gewonnen.

Die Leistungen

Vertraglich wurde für den Abzug, der zunächst sieben Jahre dauern sollte, von Kohl jedoch auf vier Jahre heruntergehandelt wurde, der russischen Armee Hilfe durch die Bundesrepublik Deutschland zugesichert. An 40 Standorten in Russland, Belorussland und in der Ukraine wurden sogenannte Offiziersstädte errichtet. Dafür stellte die Kreditanstalt für Wiederaufbau in Bonn 8,3 Milliarden DM zur Verfügung. Außerdem entstanden vier Bauteile-Fabriken mit jeweils einer Jahreskapazität von 100.000 Quadratmetern Wohnfläche. Durch internationale Ausschreibungen für den Wohnungsbau konnte der Preis für einen Quadratmeter Wohnfläche auf unter 1.000 Mark gesenkt werden, wodurch insgesamt 44.000 Wohnungen geschaffen wurden. Alles in allem sind als Gegenleistung 17 bis 20 Milliarden Mark laut Kohl-Berater Teltschik nach Russland geflossen, teils auch in Form von Lebensmitteln zur Minderung der Versorgungskrise in der ehemaligen Sowjetunion. Zu den Lieferungen gehörten für 1,5 Milliarden Mark Rinder und Schweine aus ehemaligen ostdeutschen landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Außerdem legte Staatschef Gorbatschow Wert auf das politische Versprechen, nach dem Rückzug der russischen Armee keine Truppen der NATO in Berlin und auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zu stationieren.

GarnisSchule Kasern Inzwischen hat sich in Werneuchen viel getan. Ein Teil der Bauwerke der GSSD wurde saniert. Aus der alten Garnisonsschule wurde eine moderne, attraktive Grundschule. Aus einem Teil der ehemaligen Kasernen wurden Wohnungen im Grünen.  Aber noch ist viel zu tun, um die Wundmale der Besatzungszeit völlig zu beseitigen.

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Honeckers Farbenlehre

Wie Honecker den „Sozialismus in den Farben der DDR“ erfand

In den letzten Jahren der Existenz der DDR konnte der Graben zwischen SED-Generalsekretär Erich Honecker und Kreml-Chef Michail Gorbatschow kaum tiefer sein. In der Führung war das trotz der öffentlichen Bekenntnisse zum „unverbrüchlichen Bruderbund“ längst bekannt. Wie sehr dieser Graben von Erich Honecker persönlich ausgehoben wurde, erlebte ich 1988  aus nächster Nähe.

Im Amtssitz des Staatsrates fand am 11. November 1988, einem Freitag, die Auszeichnung der DDR-Olympioniken der Spiele von Soul statt, wo sie nach der UdSSR und noch vor den USA den zweiten Platz im Medaillenspiegel belegt hatten. In Reihe und Glied saßen die Auserwählten auf rot gepolsterten Stühlen. Ganz vorn Superstar Kristin Otto, die im Schwimmen sechsmal Gold errang und als einzige mit der höchsten Auszeichnung der DDR, dem Karl-Marx-Orden, geehrt wurde. Auch Heike Drechsler war unter den Ausgezeichneten, die weltbeste Weitspringerin, die den Vaterländischen Verdienstorden in Gold erhielt, und Boxtrainer Manfred Wolke, der sich den Orden „Banner der Arbeit“ an die Brust heften durfte.

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Ich fuhr die First Lady

Georg Melzer erinnerte sich an Margot Honecker

Nach dreijährigem Dienst beim Grenzregiment 31 in Berlin war der Thüringer Georg Melzer (1948 – 1998) ab 1971 Kraftfahrer im Volksbildungsministerium in Berlin und ab Sommer 1974 bis Ende 1989 persönlicher Chauffeur der Ministerin Margot Honecker. In langen Gesprächen mit dem Autor schilderte Melzer seine Zeit mit der First Lady der DDR.

Der Beginn: „Ich bin die Margot“, sagte sie, als ich mich vorstellte. „Und du bist also der Schorsch. Wir wollen es dabei belassen. Das heißt, bei offiziellen Anlässen…“ Ich wusste, dann hieß es „Genossin Minister“. Zum ersten Mal fuhr ich die Chefin am 27. August 1974. Sie kam aus Polen, war Dr. h.c. geworden, worauf sie als einstige Telefonistin großen Wert legte. Ich holte sie am Ostbahnhof ab, verstaute das Gepäck und fuhr los, aufgeregt und nervös. Margot legte ihre linke Hand auf meinen Arm und sagte: „Schorsch, ganz ruhig, fahr einfach wie immer.“

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