Vor 50 Jahren (1965) schied DDR-Hoffnungsträger Erich Apel aus dem Leben
Zwei Ereignisse, die inzwischen ein Viertel- und ein halbes Jahrhundert zurückliegen, haben mehr miteinander zu tun, als man zunächst glauben mag. Der gewaltsame Tod Erich Apels im Dezember 1965, einer der größten Rückschläge in der Geschichte der DDR, ebnete den Weg zum Sturz Walter Ulbrichts und zur Machtübernahme durch Erich Honecker, der in eine siegreiche friedliche Revolution und in das Ende der DDR führte.
Erich Apel, der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission, schied durch Suizid aus dem Leben, Stunden bevor er ein langfristiges Handelsabkommen mit der UdSSR unterzeichnen sollte. In seinem Büro im Haus der Staatlichen Plankommission, dem heutigen Detlev-Rohwedder-Haus Wilhelm-/Ecke Leipziger Straße, erschoss sich der Chef des obersten Planungsorgans und Vertraute von SED-Chef Walter Ulbricht 48-jährig mit seiner Dienstpistole. An den Spekulationen um seinen nicht bis ins Detail aufgeklärten Tod möchte ich mich nicht beteiligen.
Im Ärztlichen Bulletin heißt es, er sei am 3. Dezember 1965 um 10.00 Uhr gestorben: „Er litt seit längerem an Kreislaufstörungen. In allerletzter Zeit zeigten sich außerdem Zeichen nervlicher Überlastung, die trotz aller ärztlichen Bemühungen zu einem plötzlichen Nervenzusammenbruch führten. In einer dadurch hervorgerufenen Kurzschlussreaktion schied Dr. Apel aus dem Leben.“
Apels Tod offenbarte das große Dilemma, in dem der reformfreudige Teil der SED-Führung steckte. Seit drei Jahren versuchte Walter Ulbricht, der 1953 die Krise um den Arbeiteraufstand nur schwer angeschlagen überstanden hatte und international mit der Lüge des Jahrhunderts („Niemand hat sie Absicht eine Mauer zu errichten.“) gebrandmarkt war, die Volkswirtschaft der DDR zu reformieren.
Die Wandlung eines Moskau-Treuen
Der Mauerbau 1961 hatte nicht die erwartete Auswirkung auf das Land, aus dem sich in den Fünfzigerjahren mehr als 25.000 Ingenieure und Wissenschaftler, Ärzte und Hochschullehrer in die Bundesrepublik abgesetzt hatten und deren Wirtschaftswunder an Sogwirkung nicht nachließ. Dadurch hatte die Stagnation der öffentlichen Ausgaben für Bildung und Ausbildung in der Bundesrepublik keine allzu negative Auswirkung. Zuwanderer aus der DDR sowie die Heimatvertriebenen gehörten zu den wichtigsten Aktiva der westdeutschen Wirtschaft. Der Nutzen übertraf bei weitem das Ausmaß der über vier Jahre verteilten Marshallplanhilfe in Höhe von insgesamt 1,5 Milliarden Dollar. Selbst westdeutsche Ökonomen schätzten den Schaden für die DDR auf dreißig Milliarden Mark.
Ulbricht hat begriffen, dass eine Modernisierung der DDR in allen Bereichen unumgänglich ist. Als einer der ersten Ostblockmachthaber erkennt er die Vorteile neuer Wissenschaftszweige, wie der Kybernetik und der Datenverarbeitung und gründet 1966 den „Strategischen Arbeitskreis“, über den Fachleute aus Praxis und Wissenschaft in die Entscheidungen der Politik einbezogen werden sollten. Ulbricht ist über Jahre bestrebt eine DDR zu schaffen, die im friedlichen ökonomischen Wettstreit mit dem Westen bestehen kann. Tatsächlich setzt mit der von Ulbricht initiierten „Neuen Ökonomischen Politik“ eine kurzfristige Stabilisierung ein, erreicht die Wirtschaft zwischen 1963 und 1968 die höchsten realen Steigerungsraten.
Auf dem 6. SED-Parteitag im Januar 1963 hatte Ulbricht seine Wandlung vom harten Verfechter einer Moskauer Linie zum Reformer offenbart, indem er sein weitreichendes Programm zur Umgestaltung der DDR-Wirtschaft verkündete. Die Wirtschaft erfordere „ein richtiges Verhältnis von Akkumulation und Konsumtion, von Arbeitsproduktivität und Durchschnittslohn und einen optimalen Nutzeffekt der gesellschaftlichen Arbeit. … Die stetige Steigerung der Arbeitsproduktivität und die Senkung der Selbstkosten verlangen die konsequente Anwendung der fortgeschrittensten wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Produktion, die komplexe sozialistische Rationalisierung der Produktionsprozesse…“ Ulbricht begründete, dass der Lohn der Leistung zu entsprechen habe und nannte das Wertgesetz – im Grunde meinte er die Erzielung von Gewinn – ein entscheidendes Instrument zur Ermittlung und Kontrolle des Arbeitsaufwandes, um Arbeit, Material und finanzielle Mittel zu sparen.
Selbst West-Medien wurden hellhörig und schrieben: „Ulbricht wird liberal.“ Ökonomen der Bundesrepublik erwarteten bald ein „Wirtschaftswunder DDR“.
Junge Manager an Ulbrichts Seite
Seine wichtigsten Garanten für einen solchen Weg sah Ulbricht in Dr. Erich Apel und Dr. Günter Mittag, zwei junge Politiker und Ökonomen, die nicht die Schule des Straßen- und Klassenkampfes gegangen waren wie ihre älteren, zumeist aus dem Moskauer Exil zurückgekehrten Genossen in der Parteispitze. Der 1917 im thüringischen Judenbach geborene Apel hatte Werkzeugschlosser gelernt und war Diplom-Ingenieur für Maschinenbau. Er hatte neben Wernher von Braun an der so genannten Wunderwaffe V2 mitgearbeitet und nach dem Krieg ein Angebot von Brauns, ihn in die USA zu begleiten, abgelehnt. Stattdessen wurde er interniert und war bis 1952 als Oberingenieur am sowjetischen Raketenprogramm beteiligt. Nach seiner Rückkehr in die DDR wurde er mit 35 Jahren Minister für Maschinenbau.

Erich Apel (l.) im November 1964 im thüringischen Chemieanlagenbau Rudisleben, dessen Erzeugnisse, darunter Trinkwasseraufbereitungsanlagen, Weltniveau verkörperten. Seine Gespräche mit Arbeitern waren stets konkret und von Fragen nach der Effektivität von Planung und Leitung geprägt
Der 1926 in Stettin geborene Günter Mittag hatte bei der Reichsbahn gelernt und danach Volkswirtschaft studiert. Beide stammten aus Arbeiterfamilien und hatten sich mit viel persönlichem Ehrgeiz emporgearbeitet. Solche jungen Managertypen förderte Ulbricht, um mit ihnen die Wirtschaft in neue Bahnen zu lenken.
Libermans Reform-Vorschläge
Was Ulbricht anstrebte, war im September 1962 in einem Artikel des Ökonomieprofessors Jewsej Liberman aus Charkow in der sowjetischen „Prawda“ nachzulesen. Unter der Überschrift „Plan, Prämie, Gewinn“ skizzierte er, wie eine sozialistische Volkswirtschaft weitgehend ohne Subventionen funktionieren kann, wenn der Gewinn als ein objektives Kriterium für die Leistungsfähigkeit herangezogen wird. Wenige Monate später wurden diese Reform-Vorschläge von der Moskauer Führung verworfen und Liberman wurde belehrt, dass das Ziel der Sowjetwirtschaft nicht der Gewinn sei, sondern die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen. Überhaupt sei Gewinnstreben eine Kategorie des Kapitalismus, die im Sozialismus nichts zu suchen habe.
Einzig Walter Ulbricht hielt an der Gewinn-Diskussion fest und beschritt neue Wege. Er löste 1963 den Volkswirtschaftsrat auf, in dem einzelne Bereiche ganze Industriezweige beherrschten. Er bildete die Staatliche Plankommission mit Erich Apel an der Spitze und gründete 17 Industrieministerien, deren Chefs fast alle zwischen 35 und 45 Jahre alt waren.
Mehr Autonomie für die Betriebe
Mit großem Eifer begann Erich Apel das Reformwerk auf den Weg zu bringen. Die starre Planvorgaben wurden reduziert, den Betrieben mehr Rechte zugebilligt und der Gewinn zum Maßstab des Erfolges erhoben. Die Vereinigungen Volkseigener Betriebe (VVB), die neugebildeten Kombinate und die Betriebe selbst bekamen mehr Autonomie, wobei sie aufgefordert wurden, das Weltniveau auf ihren Gebieten mitzubestimmen, die besten internationalen Erfahrungen zu nutzen und auch im Westen nachzuschauen, was sich für die eigene Arbeit eigne.
Aus meiner Mitschrift einer Ulbricht-Rede, in der er forderte, Systeme, Erzeugniss und Verfahren zu entwickeln, die noch nicht gedacht sind. Das sei eine Aufgabe der Großforschung, der Kombinate und Hochschulen
Für die Durchsetzung der Reformen waren zu ihrem Leidwesen nicht die „Apparatschicks“ in den Parteibüros zuständig, sondern junge, entscheidungsfreudige, selbständige Leiter an der Spitze der Unternehmen. In dieser Zeit verstärkten Apel und Mittag den engsten Führungszirkel der Partei, das Politbüro, wo sie zur Gefahr für die reformunwilligen, moskauhörigen Hardliner wurden, deren Hoffnungsträger „Kronprinz“ Erich Honecker war.
Tatsächlich machten die Reformen, die als „Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ (NÖSPL) ausgearbeitet wurden, große Fortschritte. Mit der unumgänglichen Industriepreisreform, neuen Verordnungen über die vertraglichen Beziehungen und der Bildung von Vertragsgerichten wurde Ordnung in das bis dahin fast undurchschaubare Geflecht der Wirtschaftsbeziehungen gebracht. Um Gewinne als Maßstäbe zu nutzen, mussten sie auf realen Preisen fußen. Das hatte großen Einfluss auf die Kosten, auf die wissenschaftlich-technischen Pläne, auf sauber geregelte Vertragsbeziehungen untereinander, zwischen Industrie und Forschung, Endproduzenten und Zulieferbetrieben und andere Bereiche, die schließlich auf dem Weltmarkt zum Tragen kamen.
Gegen das Wunschdenken
Im Juni 1965 sprach Erich Apel vor der SED-Bezirksleitung in Erfurt, wo ich als Wirtschaftsredakteur im ADN-Bezirksbüro tätig war. Die Oberhäupter um SED-Chef Alois Bräutigam versuchten mit vielen schönen Worten ihre Erfolge hochzujubeln. Erich Apel setzte dem ein Ende und sprach Klartext: „Es kommt darauf an, tiefer in die Probleme einzudringen, die Situation frei von jedem Wunschdenken einzuschätzen. Das verlangt in erster Linie eine sachlich-nüchterne Analyse der Ursachen, Prozesse und Ergebnisse, aller Faktoren, die zur Vorwärtsentwicklung an dem einen und zum Zurückbleiben an einem anderen Abschnitt führen. Nur wenn wir marktgerecht produzieren, wenn wir in Qualität und Kosten den Weltstand erreichen, können wir mehr importieren. Nur dann kann unser Lebensstandard schrittweise weiter steigen.“

Für meine Betriebszeitung erfand ich die „Streitgespräche“ (weil es die Talkshow noch nicht gab), in denen ich aktuelle Probleme der neuen ökonomischen Politik aufwarf und am Beispiel des eigenen Betriebes kontrovers diskutierte
Da waren sie, die Begriffe Markt, Kosten, Qualität, Weltniveau usw., die über Jahre zugunsten einer „Tonnenideologie“, in der es nur um Stückzahlen und ähnliche Größenordnungen ging, die Augen vor den Realitäten verkleistert hatten. Das Umdenken nahm bis „nach oben“ einen langen Zeitraum in Anspruch. Damals sprach ich mit einem Generaldirektor der Textilindustrie und fragte ihn, warum er nicht die von vielen Frauen gewünschten Hosenanzüge fertigte, die damals im Westen modern wurden. Die Antwort – die Zahlen habe ich nicht mehr genau im Kopf – verblüffte mich: „Wir machen im Jahr 500.000 Jacken und 500.000 Hosen. Das sind zusammen eine Million Stück. Wenn wir Hosenanzüge liefern würden, die aus Jacke und Hose bestehen, wären es insgesamt nur 500.000. Das nimmt mir da oben keiner ab.“
Weltniveau-Erzeugnisse aus der DDR
Während Moskau unter dem zwischenzeitlich an die Macht geputschten Hardliner Leonid Breschnew sich weigerte, Ulbrichts neue ökonomische Politik im sozialistischen Lager, also dem RGW-Bereich, zu propagieren, verzeichnete die DDR-Volkswirtschaft erste größere Fortschritte. Von 1964 zu 1965 nahm des Nationaleinkommens um fünf Prozent zu, die Arbeitsproduktivität um sechs und das Bruttoeinkommen um vier Prozent. Industriezweige wie Schiff-, Maschinen- polygraphischer Maschinenbau hatten hohe Exportrraten, Chemie-, Kali- und andere Erzeugnisse waren weltweit gefragt. Die Konsumgüterindustrie folgte, so dass bis Ende der Sechzigerjahre auch viele Engpässe auf dem Binnenmarkt überwunden waren, weil die privaten und halbstaatlichen Betriebe mehr Möglichkeiten für ihre Entfaltung erhielten.
Wie hart die Gegensätze zwischen Ostberlin und Moskau waren, zeigt eine Feststellung Ulbrichts auf der Internationalen wissenschaftlichen Session 100 Jahre „Das Kapital“ 1967 in Berlin: „Es wurde wenig beachtet, dass der Sozialismus sich auf seiner eigenen Grundlage entwickelt. Die Bürde der kapitalistischen Vergangenheit erschwert diese Einsicht. Deshalb wurden häufig die Kategorien der sozialistischen Ökonomik, die formal den Kategorien der kapitalistischen Ökonomik ähnlich sind (Geld, Preis, Gewinn usw.) als unvermeidliches ´Übel´ betrachtet, deren Wirksamkeit überwunden werden muss.“ Zudem hob er noch die „eigenverantwortliche Planung und Wirtschaftsführung der sozialisitischen Warenproduzenten“ hervor, was den Sowjets vollends gegen den Strich ging. KPdSU-Chef Breshnew, ein hartleibiger Apparatschik, würgt nicht nur in der Sowjetunion die Tauwetterperiode und die halbherzig betriebene Entstalinisierung ab, verhasst sind ihm auch alle Reformansätze in den sozialistischen Satellitenländern.
„Kahlschlagplenum“ gegen liberale Tendenzen
Vielleicht kann man Apels Tod nicht ohne das wenige Tage danach stattgefundene 11. Plenum des ZK der SED sehen, das eigentlich dem Perspektivplan der Volkswirtschaft bis 1970 gewidmet sein sollte und durch Honeckers Rede schließlich zu einer Abrechnung mit Ulbrichts liberaler Politik wurde. Erich Honecker nutzte seinen ersten großen Aufritt in seiner Funktion als zweiter Mann der SED-Führung zum Schlag gegen Ulbricht. Er hatte bereits eine ganze Jahresproduktion an DEFA-Filmen verboten und die zunehmend kritische Kunst als dekadent und prokapitalistisch diffamiert. Doch die Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur, denen er einen „spießbürgerlichen Skeptizismus ohne Ufer“ unterstellte, war nur der Vorwand, um gegen die Liberalisierungen im Bereich der Wirtschaft vorzugehen und den schwindenden Einfluss des Parteiapparetes rückgängig zu machen.
Zitat Honecker: „Im Namen einer ´abstrakten Wahrheit´ konzentrieren sich diese Künstler auf die Darstellung von angeblichen Mängeln und Fehlern in der Deutschen Demokratischen Republik. Einige Schriftsteller sind der Meinung, dass die sozialistische Erziehung nur durch die summierte Darstellung von Mängeln und Fehlern erfolgreich sein kann. Sie bemerken nicht, dass die Wirkung ihrer Kunstwerke nach rückwärts zerrt und die Entwicklung des sozialistischen Bewusstseins der Werktätigen hemmt.“
Honeckers Pakt gegen Ulbricht
Honecker versetzte eingangs seiner „Kahlschlag“-Rede der Wirtschaftsreform einen offensichtlichen Seitenhieb, zumal Apel als sein größter Gegenspieler nicht mehr antworten konnte. Er forderte bei der „Ausnutzung der ökonomischen Gesetze, der Erarbeitung und Anwendung ökonomischer Methoden der Planung und Leitung, der wissenschaftlich begründeten Führungstätigkeit der sozialistischen Wirtschaft, die Zusammenarbeit mit der sowjetischen Bruderpartei zu vertiefen.“ Das bedeutete, sich den Auffassungen Breschnews anzuschließen, der von den Reformen in der DDR nichts hielt und Ulbrichts Erläuterungen als „Belehrungen“ aus Ostberlin abtat.
Honecker erinnerte auf dem 11. Plenum an den Besuch Breschnews drei Wochen zuvor in Ostberlin und fügte hintersinnig hinzu, „bei dem es auch eine übrigens sehr erfolgreiche Jagd gab“. Der Hintergrund sollte sich später offenbaren. Da Ulbricht kein Jäger war, wurde Honecker zum Jagdbegleiter Breschnews in der Schorfheide, wo er einen Pakt mit dem Sowjetmachthaber gegen Ulbricht schloss, der sich – auch auf Grund eigener Probleme in der sowjetischen Wirtschaft – allerdings erst fünf Jahre später mit Ulbrichts Sturz auszahlen sollte.
Apel von den Sowjets ausgeschaltet
Im Nachhinein wird deutlich, dass die Ablösung von Kreml-Chef Chruschtschow 1964 für die DDR unangenehmere Konsequenzen hatte, als man zunächst glauben mochte. Der stockkonservative Leonid Breschnew lehnte überhaupt Reformen in seinem Machtbereich ab. Im September 1965 bekam Apel in Moskau das Misstrauen bei den Wirtschaftsverhandlungen zu spüren. Seine Gesprächspartner blieben mit ihren Zusagen weit hinter den Lieferwünschen der DDR bei Erdöl und Walzstahl zurück. Apel kehrte ergebnislos nach Ostberlin zurück.
Es folgte ein Blitzbesuch Breschnews Ende November in Berlin, bei dem die DDR-Führung klein beigeben und die sowjetischen Vorgaben für den Handelsvertrag akzeptieren musste. Auf Wunsch der Sowjets war Apel bei diesen Verhandlungen ausgeschaltet worden. Zudem war sein Vorschlag für einen neuen Fünfjahrplan von der reformfeindlichen Mehrheit im Politbüro abgeschmettert worden. Hier schien auch Ulbrichts Macht an ihre Grenzen zu stoßen, wollte er sein Amt als Parteichef nicht gefährden. War das schon Apels Todesstoß?
Honeckers Pro-Moskau-Rede
Auch in Sachen Volkswirtschaft brachte es die Fraktion der Reformgegner während des Dezember-Plenums auf den Punkt. Im Gegensatz zu Apel, der in den Kürzungen sowjetischer Lieferungen große Nachteile für die DDR erkannte und daher auch nicht auf die höheren Moskauer Forderungen nach mehr Schiffen, Maschinen, Konsumgütern und Lebensmitteln usw. eingegangen war, forderte Honecker eine Zunahme der Exporte in die UdSSR. Seiner Ansicht nach stellte das langfristige Handelsabkommen zwischen der DDR und der UdSSR „ein großes Aktionsprogramm für die Werktätigen der DDR dar“. Es müsse von den Leitern der Staats- und Wirtschaftsorgane als erstrangige Aufgaben betrachtet und termingemäß und in der notwendigen Qualität erfüllt werden. Solchen Aussagen hätte es mit Erich Apel als Chef der DDR-Plankommission angesichts der realen ökonomischen Verhältnisse nicht geben können und sicher auch nicht gegeben.
Im Gegensatz zu Honeckers Forderungen hatte das Moskauer Misstrauen gegenüber der DDR zu unregelmäßigen und sogar stagnierenden Exporten von Rohstoffen in die DDR geführt. Groteske Engpässe und Disproportionen auf vielen Gebieten der Wirtschaft waren die Folge. Einerseits verlangt Breshnew immer mehr Schiffe, Eisenbahnwaggons und Konsumgüter, auf der anderen Seite hielt sich die Sowjetunion selbst nicht an die vereinbarten Rohstofflieferungen. Breshnew zwang die DDR, sich an der Errichtung von neuen Erdölleitungen, Fabriken und Raffinerien in seinem Land finanziell zu beteiligen.
Im letzten Jahr seines Wirkens erschien mit diesem Ulbrichts Vermächtnis, desse Halbwertszeit nach Monaten beziffert werden kann. In seiner Trauerrede zu Ulbrichts Tod 1973 erwähnte Honecker mit keinem Wort dessen Verdienste um die Volkswirtschaft der DDR
Nach Apels Tod erinnerten sich viele im Land an den ZK-Sekretär für Wirtschaft Gerhard Ziller, der fast auf den Tag genau acht Jahre zuvor in seiner Wohnung am Berliner Majakowskiring in Pankow mit der Dienstpistole seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. Zusammen mit den Politbüromitgliedern Ernst Wollweber, Karl Schirdewan und einigen anderen führenden Funktionären hatte er mit den Sturz Ulbrichts vorbereitet, der Jahre vor dem Mauerbau noch die harte zentralistische Linie Moskaus vertrat und vor allem in der gewaltsamen Kollektivierung der Landwirtschaft den Unmut vieler führender Genossen herausgefordert hatte. Das Komplott wurde durch die Stasi – wenngleich Wollweber deren Chef war und nach ihm übrigens Mielke an die Spitze rückte – aufgedeckt und durch Ulbricht mit Funktionsverlusten der „Revisionisten“ geahndet.
Der „Prager Frühling“ in der CSSR, der einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz anstrebte und 1968 im Sinne der Breschnew-Doktrin von den eigenen „Verbündeten“ gewaltsam niedergschlagen wurde, entfaltete ebenfalls seine Wirkung gegen die Wirtschaftsreformen in der DDR. Angeblich war er das Beispiel dafür, wohin eine Marktwirstchaft im Ostblock führen würde – direkt in die Arme des Gegners. Ulbricht war gewarnt. In der DDR hätte die Sowjetarmee nicht einmarschieren müssen, sie war bereits mit mehr als einer viertel Million Soldaten im Land.
Reformer lebten gefährlich in der DDR
Wenn man die Geschichte der DDR überblickt, so scheinen Reformer grundsätzlich gefährlich gelebt zu haben. Dem Absturz von Werner Lamberz, unter Honecker im Politbüro für die Medienpolitik zuständig, mit einem Hubschrauber 1976 in Libyen, ging eine Politik voraus, in der er den verkrusteten Strukturen des Apparates eine durchschaubare, offene Diskussion gegenüberstellen wollte. Vor Journalisten sagte er: „Wir brauchen nicht hochtrabende Worte, sondern überzeugende Argumente. … Unsere gesamte politische Massenarbeit muss auf die Bedürfnisse und Gedanken der Bürger gerichtet sein. … Wir müssen Antworten auf alle Fragen geben, die das Leben stellt.“ Insgeheim wurde er als „Kronprinz“ Honeckers und gleichsam als Hoffnungsträger gehandelt.
Die Reformen wurden nach Apels Tod weniger energisch und mit viel Gegenwind fortgesetzt. Sie gingen mit Ulbrichts Sturz 1971 zu Ende. Der in die zweite Reihe verbannte Parteiapparat, dem Ulbricht mehrfach die Fähigkeit zur Erneuerung der Volkswirtschaft abgesprochen hatte, übernahm wieder das Zepter. Günter Mittag hatte endgültig Seiten gewechselt und zunächst in die Regierung versetzt, bis er drei Jahre später Honeckers getreuer Wirtschafts-Paladin wurde, dessen geschönte Monats-Statistiken zur angeblichen Entwicklung der Volkswirtschaft dortselbst Kopfschütteln hervorriefen. Zahlreiche Vertreter eines modernen Managements – in der DDR als „sozialistische Wirtschaftsführung“ bezeichnet – verschwanden unter ihm in der „Versenkung“.
Eine „Einheit“ hat es nie gegeben
Zu Honeckers ersten Gefälligkeiten gegenüber Moskau gehörte die Beseitigung der von Breschnew lange schon kritisierten Privatbetriebe in der DDR, indem mehr als 11.000 private und halbstaatliche Unternehmen, die fast ein Drittel der Dinge des täglichen Bedarfs produzierten und unentbehrliche Lieferanten für Finalproduzenten waren, enteignet wurden. Hinzu kam ein überteuertes Wohnungsbauprogramm, das die Schulden immens in die Höhe trieb. Die von Honecker deklarierte „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ hat es in der DDR in Hinblick auf die Vernachlässigung und den Raubbau an der eigenen Volkswirtschaft nie gegeben.
Ebenso wie Ziller ist Erich Apel an den verkrusteten Machtstrukturen zerbrochen. Eine Entwicklung, die den Marktmechanismen folgt und von einem hohen Maß an kreativer Selbstbestimmung getragen wird, hätte den erst 1968 in die Verfassung aufgenommenen Führungsanspruch der SED in Frage gestellt. Nur mit der Überwindung des gesamten Systems, so wie 1989/1990 erfolgt, waren neue Wege gangbar.