Oberhof – sein dunkelster Tag

Vor mehr als fünfundsechzig Jahren wurde die größte Enteignung von Hotels und Pensionen in der DDR gestartet. Angeblich zum Wohle des Volkes. In Wahrheit war es eine Vertreibung fleißiger Hoteliers, Pensionsinhaber und Gastwirte, die sich seit Jahrzehnten um das Wohl ihrer Gäste und den Ruf des Wintersportparadieses in Oberhof am Thüringer Rennsteig mühten.

Mitte November 1950. Auf der Kammlage des Thüringer Waldes ist es am späten Nachmittag finster. Nebel umhüllt das Ortsschild: Oberhof. In 800 Metern Höhe ragen Fassaden schemenhaft in den grauen Dunstschleier, der über dem Ort liegt. Viele Häuser tragen klangvolle Namen: Edelweiß, Germania, Heiderose, Schweizerhof, Morgensonne, Silberblick, Quisisana… Sie gehören zu den 75 privaten Hotels und Pensionen in der Gemeinde am Rennsteig.

Doch die Stille trügt. Hinter vielen Gardinen sitzen Familien auf gepackten Koffern und warten. Sie wissen noch nicht, ahnen es vielleicht, dass sie abgeholt und irgendwohin abgeschoben werden. Es sind Hotel- und Pensionsbesitzer sowie Verwandte oder Mitarbeiter, die in den Häusern wohnen. Sie haben sich nichts vorzuwerfen und hoffen, dass sich der Irrtum noch aufklären wird. Bis 16 Uhr haben sie Zeit, Persönliches zusammenzupacken sowie ein paar Möbel bereitzustellen. Andere, die möglicherweise wussten, was auf sie zukommt, waren bei Nacht und Nebel in die Bundesrepublik geflohen, hatten ihre Häuser schweren Herzens im Stich gelassen.

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Die damals existierenden Hotels und Pensionen in Oberhof (o.), die rot markierten Hotels und Pensionen (u.) fielen der Enteignung zum Opfer

Die 1950/51 enteigneten Hotels und Pensionen in Oberhof sind rot gekennzeichnet.Kaum einer der wenig mehr als tausend Einwohner wagt sich auf die Straße. Angst lähmt das bis dahin so gedeihliche Miteinander. Wen es nicht getroffen hat, der hält sich zurück. Punkt sechzehn Uhr die schneidigen Befehle: „aufladen“ und „einsteigen“. Die Autos, Lastkraftwagen sowie etliche Möbelwagen, setzen sich in Bewegung. In den meisten Fällen endet die Fahrt weitab vom Heimatort vor einer heruntergekommenen Wohnung, einer Notunterkunft, die zum Dauerquartier werden soll. Viele Betroffene sehen ihren Heimatort lange Zeit, andere, zumeist Ältere, gar nicht wieder. Noch zweimal bis Februar 1951 wiederholt sich diese Aktion.

Kurort der Eliten

Der höchstgelegene Luftkurort der Region hatte bereits zur Kaiserzeit jährlich zwanzigmal so viele Besucher wie Einwohner. Seit 1861 kamen Jahr für Jahr Gäste aus ganz Deutschland, um Wintersport zu treiben. Oberhof wurde als Luftkurort berühmt, spätestens seit 1906 eine Bobbahn und eine Skisprunganlage gebaut wurden. 1931 richteten Bobfahrer und Nordisch Kombinierte erstmals hier ihre Weltmeisterschaften  aus.

Nicht weniger anziehend war zur warmen Jahreszeit das Golfspiel auf dem 1908 eingeweihten Platz, der sich bald zur ersten Adresse in Europa mauserte. Herausragende Wettbewerbe lockten die Golfprofis nach Oberhof, 1913 sogar zur ersten Internationalen Golfmeisterschaft. Bis 1950 wurde aktiv Golf gespielt, doch der „Sport der Kapitalisten“ geriet zu DDR-Zeiten in Verruf und wurde staatlicherseits nicht mehr gefördert, die Anlage verfiel.

 Oberhof2 Liste des Pfarrers mit den betroffenen Personen und Familien

Wer auf sich hielt, erholte sich in Oberhof. Früher waren es die Reichen und Schönen, Schauspieler und Fabrikanten, Bankiers und der Adel. Zu den Gästen gehörten UfA-Stars wie Marlene Dietrich und Willy Birgel, ihnen folgten Nazigrößen wie Goebbels und nach 1945 waren es Pieck, Grotewohl und Ulbricht, die sich ihre Appartements sicherten. Hotels und Pensionen waren für viele Familien Existenzgrundlage geworden.

Fotos zeigen SED-Generalsekretär Ulbricht als leidenschaftlichen Ski-Läufer auf den Höhen des Thüringer Waldes oder mit Schlittschuhen auf der Spritzeisbahn. Das mag ihn sehr früh schon bewogen haben, aus dem deutschen St. Moritz der 20er und 30er Jahre einen „Kurort der Werktätigen“ zu machen. Aber wie und womit? Das wurde der Gemeinde zum Verhängnis.

ZeitungIn der von der SED gleichgeschalteten Presse erschienen Artikel mit hetzerischen und erlogenen Behauptungen über die Enteigneten, um die Unrechtsaktion vor der Bevölkerung zu rechtfertigen

Die Tricks der Staatsgewalt

Der 1947 gegründete gewerkschaftliche Feriendienst besaß kaum Hotels und Pensionen, die er den Werktätigen vermitteln konnte. Ein Weg, der das ändern sollte, hieß: Die privaten Hotels und Pensionen kaputt machen, in den Ruin treiben, enteignen und übernehmen. Ulbricht entschied, die Thüringer Landesregierung plante und die Staatsgewalt schlug zu.

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Der Urheber aller Maßnahmen: Walter Ulbricht. Er hatte in Oberhof sein festes Domizil

 Im Oktober 1950 bot der FDGB-Feriendienst den Hotelbesitzern und Pensionsinhabern für die Übernachtung eines Urlaubers 1,50 Mark an. Das war nicht annehmbar und musste aus Kostengründen abgelehnt werden. Damit hatte man gerechnet. Tage später fiel eine Schar Polizisten über die Gästehäuser her und durchsuchte jeden Winkel. Ein Stück Kernseife mehr, ein Kilo Fleisch, eine gute Flasche ohne Nachweis – schon hatte man die „Spekulanten“, „Schieber“, „Wirtschaftsverbrecher“ überführt. Wo man nichts fand, unterstellte man mit einem gefunden Buch aus der Nazizeit oder einer West-Zeitung Gegnerschaft zur DDR. Fand man gar nichts, reichte der Kontakt zu einem Reisebüro im Westen als Nachweis für eine Verbindung zum amerikanischen Geheimdienst. Die Beweise waren so primitiv und durchsichtig, dass von einem beabsichtigten Schauprozess Abstand genommen wurde.

In den DDR-Zeitungen las sich das so: „Aus den polizeilichen Ermittlungen, die noch nicht abgeschlossen sind, geht hervor, dass in Pensionen und Hotels ein politisch reaktionärer Klüngel durch schwerste Wirtschaftsverbrechen die Deutsche Demokratische Republik schädigte und darüber hinaus durch Verleumdungen und Hetze das Ansehen unserer antifaschistisch-demokratischen Ordnung in Misskredit brachte.“

Selbst der Oberhofer Vorsitzende des Ortsausschusses der Nationalen Front, einem Wahlverein aller Parteien und Organisationen unter Führung der SED, erklärte öffentlich, dass 99 Prozent der Bevölkerung diese Aktion scharf verurteilen. Bei der nächsten Zwangsaussiedelung gehörte er zu den Deportierten.

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Mit wunderschönen Briefmarken trug man den Ruf Oberhofs als ideales Wintersportparadies in alle Welt

In den Kurorten Friedrichroda, Tabarz, Bad Liebenstein und Tambach-Dietharz wurden in den folgenden Monaten ähnliche Aktionen durchgeführt. Ein Hotel nach dem anderen wurde so zum Ferienheim des FDGB. Ein Bericht der Bezirksbehörde der Volkspolizei über die erfolgreiche Operation nennt als wahren Hintergrund, „dass nunmehr der Ausbeuterklasse auch im Erholungswesen die Basis entzogen und sozialistischen Eigentumsverhältnissen der Weg geebnet wurde.“

Die Wahrheit in der Kirchenchronik

Helmut Teuber, evangelische Ortspfarrer in Oberhof bis 1960, hat die Aktionen miterlebt und in seiner Chronik festgehalten. Da heißt es: „Der dunkelste Tag in jener Elendszeit, in der der Ortsgeistliche nur Verhungerte oder solche, die aus Verzweiflung ihrem Leben selbst ein Ende gemacht hatten, beerdigte, war der 13. November 1950. Jener Tag, an dem morgens unerwartet auf allen Straßen Möbelwagen vorfuhren und die begleitende Polizei den jeweiligen Hausbewohnern den Befehl vorlegte, nach dem sie bis 16 Uhr ihre Sachen gepackt und den Ort mit unbekanntem Ziel zu verlassen hätten.“

Die „Deportiertenliste“, die der Pfarrer seinen Notizen beigefügt hat, nennt 48 Namen von Familien, so dass nach seiner Schätzung 170 Menschen betroffen waren. Weiter heißt es: „Es spielten sich erschütternde Szenen ab. Herzkranke bekamen Anfälle. Alte Leute mussten in den Wagen getragen werden. Kinder weinten, weil sie ihre schöne Heimat nicht verlassen wollten. Der Ortsgeistliche ging alle besuchen, wurde aber zu vielen von der Polizei nicht zugelassen – besonders nicht zu den Verhafteten.“

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Auszug aus der Kirchenchronik von Oberhof

Der Pfarrer schätzte ein: „Da die Betroffenen hauptsächlich Logierhausbesitzer waren, deren Häuser nachher enteignet oder durch einen Treuhänder verwaltet wurden, war die Absicht der Sozialisierung des Kurortes deutlich.“

„Pilotprojekt“ Oberhof

Die Enteignungen in Oberhof waren gewissermaßen das „Pilotprojekt“ für die folgenden großen Aktionen „Rose“ und „Edelweiß“ an der Ostsee und in den schönsten Gegenden der ostdeutsche Mittelgebirge, die für den FDGB-Feriendienst „gesäubert“ wurden. Der vom Thüringer Innenminister Willy Gebhardt ausgearbeitete Plan  sah die Enteignung und sofortige Aussiedlung der „Verbrecher“ in Gegenden nicht näher als 50 Kilometer zum Landkreis Suhl vor. Rückkehr war bei Strafe verboten, wie ebenso die Aufnahme Zwangsausgesiedelter durch Verwandte oder Freunde in ihrem alten Wohnort.

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 Oberhof um 1895, ein unscheinbares kleines Bergdorf am Rennsteig

Heinz Schweizberger, der viele Jahre in der Bauabteilung der Kommunalverwaltung tätig war, hat damals auf einer Panoramakarte 41 Hotels und Pensionen ausgemacht, die enteignet wurden. Nach dem Ende der DDR gab er dem Autor die Karte mit der Bemerkung: „Man kann die damalige Situation schwer beschreiben. Jeder hatte Angst, der nächste zu sein. Wer weiß, wie lange die Enteignungen noch gegangen wären, wenn da nicht Mitte Februar 1951 an den ostdeutschen Wintersportmeisterschaften im Beisein von Präsident Wilhelm Pieck und Ministerpräsident Otto Grotewohl internationale Gäste teilgenommen hätten. Die Ausländer – ich glaube aus Schweden, Norwegen und Österreich – drohten mit ihrer sofortiger Abreise, wenn die Willküraktionen gegen die Bevölkerung nicht eingestellt würden. Da war dann endlich Schluss, denn man fürchtete den internationalen Skandal.“

1951 und 1952 herausgegebene Briefmarken über den Wintersport in Oberhof sollten von dem Schicksal vieler Familien ablenken und eine heile Winterlandschaft vorgaukeln. Der Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR trug dazu bei, dass  einige wenige Eigentümer ihre Pensionen zurückerhielten. Die meisten Anträge auf Rückgabe oder Entschädigung konnten aber erst nach 1989  gestellt und abschließend geregelt werden.

Überbleibsel unseliger Privilegien ist das in den Sechzigerjahren auf einem zehn Hektar großen abgeschirmten Terrain am Rennsteig gebaute Gästehaus der SED-Führung, das in Anlehnung an Ulbrichts Vornamen „Waltershausen“ (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Stadt weiter nördlich) genannt wurde. Heute fristet die verfallene Anlage nach mehreren Eigentümerwechseln und einer Brandstiftung ein ungewisses Dasein.

Andere überdimensionierte Bauten zur Massenabfertigung von DDR-Urlaubern aus den Siebzigerjahren, so die Ferienheime „Rennsteig“ und „Fritz Weineck“, wurden inzwischen abgerissen. Allein das Hotel „Panorama“, das jugoslawische Baufirmen bis 1969 bauten und im einfallsreichen Stil einer Sprungschanze der Landschaft anpassten, gehört heute mit seinem neuen Flair zu den Attraktionen Thüringer Gastlichkeit.

Biathlon

 Moderne Biathlon-Schießanlage in Oberhof

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Tietelbild Geschichten

3 Kommentare

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3 Antworten zu “Oberhof – sein dunkelster Tag

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  3. Stephan, geb. Thomas

    Wir mussten auch Oberhof verlassen und kamen nach Bad Berka.

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