Dem Grenzdienst entzogen – so oder so

Kleiner Einblick in die große Anzahl der Suizide bei den Grenztruppen der DDR

Die SED-Führung war Anfang der Siebzigerjahre in der Bredouille. Monat für Monat verschwanden, umgerechnet auf 28 Mauerjahre, durchschnittlich acht Grenzsoldaten in den Westen, also jede Woche zwei. Anfangs mögen es ein paar mehr, später ein paar weniger gewesen sein. Für SED-Chef Erich Honecker und Stasi-Chef Erich Mielke ein heißes Thema. Als in der Magdeburger Außenstelle der Unterlagenbehörde ein „Schießbefehl“ vom 1. Oktober 1973 gefunden wurde, stellte sich heraus, dass der für eine Stasitruppe galt, deren Mitglieder sich als Grenzsoldaten tarnten.
Mielke („Hinrichten, wenn notwendig auch ohne Gerichtsurteil!“) hatte entschlossen gehandelt. Eine Spezialtruppe war aufgebaut worden, deren Mitglieder in die Grenztruppe einsickerten, um der Fahnenflucht vorzubeugen. Diese „007“-Typen hatten von „ganz oben“ die Lizenz zum Töten. Wo es fast unmöglich geworden war zu fliehen, blieb für viele Grenzer, die sich den Strapazen des Grenzdienstes aus welchen Gründen auch immer nicht gewachsen fühlten, nur noch der Weg in den Selbstmord.

Mord an der Tagesordnung

Jahrelang wurde über einen mehr oder weniger vorhandenen Schießbefehl debattiert und vor Gericht gestritten. Was auch immer ans Licht kam – über tausend zum großen Teil junge, hoffnungsvolle Menschen sind an der innerdeutschen Grenze nicht gestorben, weil sie über ein Stück Draht gestolpert sind. Und viele junge Menschen waren nicht des Lebens überdrüssig, weil die Grenztruppen eine Wohlfahrtsorganisation waren. Mord gehörte zum „Geschäft“, so oder so.
Wer kümmert sich um die vielen, nicht minder tragischen suizidalen Todesfälle? Offenbar ist keine Behörde damit betraut, wenngleich deren Zahl mehrstellig ist. In einem Archiv vertiefte ich mich in zahlreiche Fälle so genannter Selbsttötungen von DDR-Grenzsoldaten. Aus einem Zeitraum von etwa drei Jahren griff ich wahllos 18 Fälle heraus, die bei den Grenztruppen als „Selbsttötungen“ abgeheftet worden waren.

Durch alle Dienstgrade

Ich versuchte einen Eindruck von den Ursachen zu gewinnen, wenngleich ich ahnte, die wahren Hintergründe in den Akten nicht zu finden. Alles in allem waren die Betroffenen zwischen 19 und 44 Jahren alt, sie umfassen vom einfachen Soldaten bis zum Major eine breite Palette an Dienstgraden.
In so genannten Protokollen waren Gründe für die Selbsttötungen „herausgearbeitet“ worden. Allein der Begriff „herausgearbeitet“ lässt schon vermuten, dass die Wahrheit im wahrsten Wortsinn herausgearbeitet wurde. In keinem Fall war das Grenzregime, der Verlust der eigenen Persönlichkeit, die Angst, auf eigene Landsleute, Frauen und Kinder schießen zu müssen, ein Problem. Welcher Kommandeur hätte solche eine Begründung auch „nach oben“ geliefert? Der Politunterricht wäre als unzureichend kritisiert worden, Verantwortliche hätten sich rechtfertigen müssen.
In den 18 Fällen war laut Akten achtmal die Ehefrau bzw. die Freundin schuld. In einem Fall hatte die Freundin einen Ausreiseantrag gestellt, in einem anderen Fall waren es die Eltern, die die DDR verlassen wollten, womit die eingetragene Begründung für den Selbstmord sogar noch einen patriotischen Anstrich erhielt. Einige Beispiele:

„Herausgearbeitete“ Motive

– Der Gefreite R. (24) beging Selbstmord am 8. Juni 1986, gegen 13.35 Uhr, indem er sich an einem Heizungsrohr strangulierte. Dazu ist nachzulesen: „Die Ursache für die Selbsttötung liegt in der Persönlichkeit des Täters begründet. Psychisch wenig belastbar, neigte zur Hektik und Unbeholfenheit.“ Dazu, dass er bereits im Juli 1985 einen Selbstmordversuch unternommen hatte, heißt es kurz und bündig: „Wurde für den Einsatz an der Staatsgrenze für untauglich befunden und als Schreiber/Kammerverwalter in einem Stab eingesetzt.“
– Gefreiter F. (22) schied am 8. Juli 1986, 13.00 Uhr, durch Erhängen aus dem Leben. Grund laut Akten: „Eheprobleme und Auseinandersetzungen mit den Großeltern.“
– Der Unterleutnant T. (21) beging Selbstmord am 22.August 1986, um 7.58 Uhr. In den Akten dazu: „Als Motiv wurde die Trennung von seiner Freundin herausgearbeitet“
– Mit drei Schüssen aus seiner MPi in den Kopf hatte sich Unteroffizier L. (19) am 26. Oktober 1986 um 21.50 Uhr, kurz vor seinem Einsatz im Grenzdienst, erschossen. Er war gerade als stellvertretender Zugführer im Bereich Grenzsicherung bestätigt worden. Im Bericht über den Selbstmord heißt es lapidar: „Aus den vorgefundenen Aufzeichnungen des Uffz. L. wurden widernatürliche Gedankengänge erkennbar, die sich in Schrift und Bild in Suezidabsichten äußern. Das Motiv liegt vermutlich in der Mentalität seiner Persönlichkeitsentwicklung begründet.“
– Major S. (43) beging am 20. Mai 1988 gegen 11.10 Uhr in seinem Dienstzimmer mit einem Schuss in die Schläfe aus seiner Makarow Nr. 71 MY 1440 Selbsttötung. Dazu heißt es: „Das Motiv für die Selbsttötung liegt in der persönlichen Schwäche des Major S. gegenüber dem Alkohol und sich daraus ergebenden familiären Konfliktsituationen.“
– Soldat D. (24) wurde am 27. Juli 1988, um 1.55 Uhr, als leblose Person nach einem Sturz von einem Dienstobjekt aus 25 Meter Höhe gefunden. „Der Tod war am 27. zwischen 1.45 und 2 Uhr eingetreten.“ Begründung: „Minderung der psychischen Belastbarkeit. Die Entlassung aus dem aktiven Wehrdienst war eingeleitet.“
– Hauptmann O. (30) schoss sich am 9. November 1988, gegen 22.10 Uhr, im Dienstzimmer mit der Dienstpistole in die Schläfe und verstarb daraufhin am nächsten Tag. Motiv: Konflikt mit der geschiedenen Ehefrau, mit der er noch in Lebensgemeinschaft lebte. Sie hatte ihm am Abend mitgeteilt, dass sie sich endgültig von ihm trenne.

Nichts für „Sensibelchen“

Dreimal lag es in den 18 Fällen am Alkohol – mehr hätte es in Hinblick auf die Moral der Truppe auch nicht sein dürfen. Ansonsten fand man in schriftlichen Unterlagen der Opfer „widernatürliche Gedankengänge“ sowie Dinge, die auf eine „Störung der Persönlichkeitsentwicklung“ hindeuten, auf eine „Minderung der psychischen Belastbarkeit“ oder auf einen zu „sensiblen Charakter“. Die deutsch-deutsche Grenze vertrug nun mal keine Sensibelchen.
In einer Akte fand ich den Abschiedsbrief des 21-jährigen M. aus Jena vom 26. November 1987, der möglicherweise versehentlich in den Unterlagen verblieben war. Darin schreibt der Gefreite, als er von einem Antrag seiner Eltern und Geschwister auf Ausreise in die Bundesrepublik erfahren hatte: „Ich fühle mich in dieser Welt von allen Seiten verraten und betrogen.“ Dennoch hatte er, wie die „Ermittler“ feststellten, einen Abbruch der Beziehungen zu seinen Eltern und Geschwistern abgelehnt. Weiter klagt der junge Mann: „Jeden zweiten Tag Wache, von 48 Stunden 30 Stunden Dienst und nur ca. 3 Stunden Freizeit. Das ist einfach lachhaft, was hier mit uns getrieben wird. Beschwerden und Aussprachen brachten keine positiven Ergebnisse, im Gegenteil. Dazu habe ich noch eine Studiumsabsage erhalten. Ich bin diesen psychischen Belastungen nicht mehr gewachsen und habe einfach die Schnauze voll.“

Viele offene Fragen

Es ist nicht bekannt, wie viele Selbstmorde es bei den Grenztruppen insgesamt gegeben hat. Es müssen viele, sehr viele gewesen sind. Ab 1963 wurden in der DDR die Suizide generell nicht mehr im Statistischen Jahrbuch veröffentlicht, weil die SED auf solche Rekorde nicht erpicht war. Sie lagen nach Expertenschätzungen bei etwa 5.000 bis 6.000 pro Jahr, im Verhältnis zur Bundesrepublik pro 100.000 Einwohner um ein Drittel höher.
Eine Aufarbeitung der Hintergründe sowie der Vertuschungen wäre eine lohnenswerte Aufgabe für die Stasiunterlagenbehörde, auch um der Toten, ihrer Leiden und der Hinterbliebenen willen.

3 Kommentare

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3 Antworten zu “Dem Grenzdienst entzogen – so oder so

  1. H. Müller

    Vieles Leid ist über die Familien der Grenzsoldaten, die ihr beschrieben habt, herein gebrochen mit dem damaligen, plötzlichen Tod ihrer Angehörigen! Ich kann es auch kaum fassen, dass mein ehemaliger Klassenkumpel Axel L. unter diesen Todesfällen ist. Im Gedenken an ihn darf ich sagen, dass mir nach so vielen Jahren immer noch in Erinnerung ist, dass er 2 Brüder hatte, dass er sehr gut zeichnen konnte und ein lustiger, lebensfroher Kerl war…also noch ca. 3 jahre, nachdem wir uns aus den augen verloren haben…! Mobbing gabs wohl damals noch nicht? Ich bin mir sicher, dass diese fragen die familie von axel allemal schon bis zur heutigen zeit versucht hat, zu klären!!

    Im Gedenken an Axel L.!
    Ich hab dich nicht vergessen!!

    Holger Müller von der 10 R1 der Russisch-Schule Frankfurt(Oder)

  2. H. Müller

    Ergänzend zu ,einem kommentar vorab… Es gibt die studie der tu berlin genau zu dem selben thema. Hier ist vermerkt, dass axel l. in einer tiefen inneren krise war, als er feststellen musste, dass er einerseits als stellvertretender zugführer abgelöst ist, andererseits ihn sein führungsoffizier ( MFS) genau kurz vorher auf die „abschiebebank“ platziert hat. Liebe DDR-Gegener: Verkneift Euch Eure Kommentare…die, die ihr nicht diese mechanismen spüren musstet!! Ein Mensch starb…und Punkt!!!

  3. Pingback: Inhalt | Klaus Taubert

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