Chroniken der Heuchelei

Ein Volk schrieb Tagebuch – „Geschichtsbücher des Sozialismus“ verklären die DDR

Die Schönfärberei in der DDR bekam ab 3. Januar 1959 einen schwunghaften Auftrieb. Die Brigade „Nikolai Mamai“ im Aluminiumwerk des Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld hatte sich vorgenommen, ab diesem Tag „sozialistisch arbeiten, lernen und leben“ zu wollen. Bei Erfolg gab es den Titel „Brigade der sozialistischen Arbeit“. Damit alles auch schön nachgewiesen werden kann, gehörten die „Brigadetagebücher“ als neue Marotte von Agitation und Propaganda dazu. Sie wurden zu handgeschriebenen Chroniken der Heuchelei. Und interessant für die Nachwelt.

TitelEigentlich sollte ich nach meiner Ausbildung das Laboratorium der Zuckerfabrik übernehmen, in der mein Vater erster Siedemeister war. So wie er den Fußstapfen seines Vaters gefolgt war, schien es klar zu sein, dass ich ebenfalls mein Berufsleben der Raffinade widmen würde. Anfang der Fünfzigerjahre galt das Interesse der ganzen Familie dem Arbeitsplatz des Familienoberhauptes, und die Söhne wurden nicht selten von Kindheit an auf die Nachfolge vorbereitet.

MoralUlbrichts zehn Gebote der sozialistischen Ethik und Moral auf einer Vorderseite des Brigadetagebuchs

Lange hatte ich als Kind während der herbstlichen Rübenkampagne meinem Vater mit der „Braut“ – das ist in Thüringen ein Topf mit Henkel zum Tragen – das Mittagessen an seinen Arbeitsplatz gebracht. Vor den riesigen Apparaturen ließ ich mir erklären, wie der Zucker aus den Rüben in die Tüten kommt. Vielleicht hat die Tätigkeit meines Vaters tatsächlich meine erste Berufswahl, Facharbeiter für organische Grundstoffchemie, beeinflusst.

Der Hammer war ein Argument

Anfang der Fünfzigerjahre gab es in der DDR einen Wettbewerb der Zuckerfabriken um die beste Qualität, in der die Schicht meines Vaters mehrfach den ersten Platz belegte. Als er von einem Reporter des Senders Weimar interviewt wurde, hingen wir zu Hause am Radio. Während eines solchen Gesprächs, das im großen Siedehaus stattfand, wo der Rübensaft gekocht und gefiltert wird, störte ein völlig unpassendes Geräusch, das ich bei meinen häufigen Besuchen dort nie gehört hatte.

Zuckerfabrik.1Der 1. Siedemeister im Vordergrund vor den großen Behältern, in denen der Zuckersaft gekocht wurde. Unten: Der Hammer als wichtiges „Argument“ der SED-Politik

2teParteikonf1952Mein Vater lachte und erklärte, wie der Kraftfahrer des Radio-Reporters während des Interviews ab und zu mit einem Hammer auf das Metallgeländer einer eisernen Freitreppe schlug, so dass es laut durch die große Halle dröhnte. Hämmer waren damals wie Argumente. Auf dem Plakat der zweiten Parteikonferenz 1952 umfasst ein Arbeiter mit seinen Händen einen mächtigen Hammer, als wolle er alles kurz und klein schlagen. Oder den westdeutschen Klassenfeinden zeigen, wo der Hammer hängt. Besonders gut machte sich da ein kräftiger Hammerschlag während eines Gesprächs über gute Arbeit und beste Qualität.

Mitnehmen, was zu holen ist

Ende 1958 war die Brigade „Nikolai Mamai“ aus dem Aluminiumwerk I des Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld für eine neue Marotte ausgewählt, die nach dem Motto „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!“ vom „Lande Lenins und Stalins“ übernommen worden war. Nach einem Bergarbeiter aus dem Lugansker Gebiet benannt, dessen Brigade bei der Steinkohleförderung den Siebenjahrplan in fünf Jahren erfüllen wollte, beschlossen die „Mamais“, ab 3. Januar 1959 sozialistische zu arbeiten, zu lernen und zu leben und den Titel „Brigade der sozialistischen Arbeit“ zu erringen. Dafür wurde ein Prämienfonds eingerichtet, aus dem die Auserwählten belohnt wurden.

BTBStellungn.1  BTBRanger

Mit politischen Themen ging man mit der sozialistischen Tageszeitung immer konform

Kurze Zeit später, Anfang 1959, folgte der Meisterbereich meines Vaters. Sein praktisches und überzeugendes Argument: „Wir arbeiten gut, wir liefern beste Qualität und wir kommen alle gut miteinander aus. Warum sollen wir nicht mitnehmen, was zu holen ist?“ Mit anderen Worten: Alles läuft weiter wie bisher, nur dass es aufgeschrieben wird und Prämien kassiert werden. Das würde niemanden überfordern, bis auf den, der alles in ein Tagebuch einzutragen hatte, aber da wechselte man sich ab. Zum Teil hat es auch meine Mutter in enger „Zusammenarbeit“ mit der Tageszeitung gemacht.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, hätte ohne „Titelkampf“ allerdings auch mancher Theaterbesuch, manche Reise zu Sehenswürdigkeiten und hin und wieder ein erlebnisreicher Brigadeabend mit Ehepartnern nicht stattgefunden. Auch wenn sich der eine oder andere für einen Theaterabend mit Anzug und Krawatte schwer tat, geschadet hat es keinem.

Ein „Quell“ der Literatur

Ohne Brigadetagebuch war ein Kampf um den Titel ,,Brigade der sozialistischen Arbeit“ nicht möglich. Nach offizieller Darstellung sollten diese zumeist handgeschriebenen Bücher eine Chronik des sozialistischen Arbeitens, Lernens und Lebens sein und die Höhen und Tiefen eines Kollektivs beschreiben. Walter Ulbricht bezeichnete sie sogar als „Geschichtsbücher des Sozialismus“, die der Herausbildung sozialistischer Kollektive und Persönlichkeiten dienen und dazu beitragen würden, die „sozialistische Menschengemeinschaft“ zu formieren.

Das Tagebuch der Brigade meines Vaters widerspiegelt in Wort und Bild passgerecht und in den schönsten Farben Ereignisse und Ergebnisse der Arbeitswelt ebenso wie gemeinsame Freizeiterlebnisse der Brigademitglieder. Natürlich wurden da nicht die Querelen, der Mangel an Material, die Unzufriedenheit mit der Versorgung, fehlende Reisemöglichkeiten usw. aufgeschrieben, Themen, über die im kleinen, vertrauten Kreis natürlich diskutiert und gehadert wurde. Das hätte auch keine Prämien gebracht – im Gegenteil.

In Karl-Marx-Stadt (Chemnitz), gab es sogar einen Konsultationsstützpunkt für all jene, die Brigadetagebücher schrieben. Mehrere hundert „Brigadeschriftsteller“, so wurde im „Neuen Deutschland“ berichtet, hätten sich dort bereits weitergebildet. Schriftsteller, Filmszenaristen und Dramaturgen wurden aufgefordert, diese Bücher zu durchforsten, um konfliktreiche Stoffe für Literatur, Film und Fernsehen zu entdecken.

„Mit uns der Sieg!“

Für mich ist das über zehn Jahre geführte Brigadetagebuch eine schöne Erinnerung an das Arbeitsleben meines Vaters. Auf der ersten Seite des sozialistischen Poesiealbums, dessen roten Einband das goldene Zeichen des nie erfüllten Siebenjahrplanes schmückt, steht ein Spruch aus dem „Sozialistenmarsch“. Aus dem Refrain ist jedoch die 5. Zeile mit dem „heil´gen Krieg“ weggelassen worden, auf die sich schließlich der Sieg reimen sollte:

„Der Erde Glück, der Sonne Pracht./
Des Geistes Licht, des Wissens Macht./
Dem ganzen Volke sei ´s gegeben./
Das ist das Ziel, das wir erstreben./
Das ist der Arbeit heil´ger Krieg./
Mit uns das Volk, mit uns der Sieg!“

Als Leitfaden für den Inhalt wurden auf der ersten Innenseite Walter Ulbrichts „Grundsätze der sozialistischen Moral und Ethik“ platziert. Danach wird in diesem Sinne das Leben und Wirken von 45 Frauen und Männern handschriftlich und reich bebildert chronologisch dargestellt. Dazwischen wird das Weltgeschehen reflektiert, wie es ähnlich in der Tageszeitung nachzulesen war. Manche Formulierungen sind sogar identisch. Mich interessierte die Meinung der Brigade zum Mauerbau am 13. August 1961. Zu meinem Erstaunen steht dazu kein Wort im Brigadetagebuch. Das deckt sich mit der Meinung, die mein Vater dazu nicht an die große Glocke hing. Auch Opportunismus hatte seine Grenzen.

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WanderungViel Gereimtes, kaum „Ungereimtes“ in den Brigadetagebüchern.

Eine alte Rechnung

Besonders gut machte es sich, als sich die Brigade in die deutsche Politik einmischte, indem sie gegen die CDU-Kandidatur eines Walter Pikuritz für den Bundestag in Bonn protestierte. Dem gehörte einst die Zuckerfabrik, in der mein Vater in den Dreißigerjahren für zwanzig Mark die Woche geschuftet hatte. 1947 versuchte Pikuritz diese inzwischen volkseigene Zuckerfabrik in der Nähe von Erfurt wieder in seine Hände zu bekommen. Als ihm das nicht gelang, stahl er 60.000 DM aus der Fabrikkasse und setze sich nach Westberlin ab. Im Grunewald gehörte ihm nämlich eine riesige Villa mit Park (heute Senats-Gästehaus), die er 1938 erworben hatte, als sie von den Nazis als ehemals jüdisches Eigentum zwangsversteigert wurde.

14-Vaters(mit Brille)BrigadeFeierliche Brigadeauszeichnung

An anderer Stelle ist im Brigadetagebuch auch nachzulesen, wie 1961 brauner Rohrzucker aus Kuba zu feinem Weißzucker veredelt wurde, weil das infolge der Kubakrise und der Blockade der Karibikinsel dort nicht möglich war. Damals stand man auf „Fidel“ und verschob sogar seinen Urlaub, um Extraschichten zur Unterstützung von Castros Revolution in der Karibik zu leisten. Und für anständige Prämien.

Zu wenig „Erziehung“

Nachdem es Lob, Anerkennung, Orden und Bares für den erfolgreichen Titelkampf und die Führung des Brigadetagebuchs gegeben hatte, wurde von den gewerkschaftlichen Gutachtern bemängelt, dass im Buch zu wenig die erzieherische Auseinandersetzung mit Kolleginnen und Kollegen ihren Niederschlag finde. Es sei doch nicht anzunehmen, dass sich jede Kollegin und jeder Kollege völlig konfliktlos in das erfolgreiche Kollektiv eingliedere. Dem konnte abgeholfen werden.

BierneuMehr Konfliktlösung? Aber bittesehr!

In einem Eintrag vom 9. Juni 1962 ist zu lesen: „Es kamen in letzter Zeit Unpünktlichkeiten vor, wodurch die Arbeitsmoral leidet. Es folgte eine harte Auseinandersetzung mit dem Maler Koll. Werner Müller. Die Brigademitglieder warfen ihm vor, dass er vor der Arbeitszeit mit Biertrinken anfängt und während der Arbeitszeit oft seinen Platz verlässt, um zu trinken. Die Kollegen sind der Meinung, dass der größte Teil der Arbeitskollegen während der Arbeit eine Flasche Bier trinkt, aber es darf nicht vorkommen, dass ein Kollege vollkommen betrunken ist.“

Natürlich hat der Kollege Müller einen Verweis bekommen, und auf die Frage ob er wüsste, was er nun zu tun hätte, antwortete er laut Tagebuch: „Es geht in Ordnung.“ Was auch immer.

TagebuchUlb

Millionen wollten sozialistisch leben

Die meisten Brigadetagebücher waren nicht mehr als eine widerwillig ausgeführte Pflichtübung, weil sie für die Auszeichnung mit dem so genannten Staatstitel „Brigade…“ und später „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ gefordert wurden. Daher waren sie oft auch nur Fotoalben mit kurzen erläuternden Texten. 1989 gab es nach statistischen Übersichten rund 300.000 sozialistische Brigaden mit mehr als fünfeinhalb Millionen Mitgliedern.

Die Heuchelei ergibt sich allein schon daraus: Wenn die alle sozialistisch gearbeitet, gelernt und gelebt haben, dann fragt man doch, wo kamen 1989 die Millionen Demonstrierenden her, die plötzlich auf den Straßen der DDR riefen „Wir sind ein Volk“ und „Wir wollen raus“? Selbst mein Vater hatte nichts dagegen und war bald Ehrenmitglied der neugegründeten SPD-Ortsgruppe, der er schon als junger Mensch einmal angehört hatte.

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