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„Blockflöten“ in der DDR – Feigenblätter der Diktatur

Am 16. Juni 1948, also vor 70 Jahren, wurden in der DDR die Parteien NDPD und  DBD gegründet, während es die Christlich-Demolkratische Union Deutschlands (CDU) und die Lieberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD) schon seit 1945 gaben. Moskau hatte ein Mehrparteiensystem in der DDR befürworetet, wenn nicht sogar vorgeschrieben. Man wollte in der sowjetischen Besatzungszone Parteien für eine Einflussnahme auf die herrschenden westdeutsche Parteien CDU (repräsentiert durch Konrad Adenauer) und FDP (repräsentiert u.a. durch Theodor Heuss) installieren.

Die Wahlerfolge von CDU und LDPD bei den Landtagswählen in der DDR stellten für die aus KPD und SPD zwangsvereinigte SED eine Gefahr dar, nicht regieren zu können. Nach dem Prinzip „Teile und herrsche“ wurden die National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD) als Sammelbecken für ehemalige Militärs des Nationalsozialismus und die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) gegründet. Der große Teil der parteilosen Bauern sollte auf diese Weise auch für die bald einsetzende Kollektivierung der Landwirtschaft vorbereitet werden.

Jahrzehnte später: Als im Bundesland Thüringen erstmals nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik mit dem ehemaligen westdeutschen Gewerkschaftsfunktionär Bodo Ramelow ein Politiker der Partei Die Linke Ministerpräsident wurde, schlugen die Wellen der Empörung hoch. Die „Nachfolgepartei der SED“ – hier wird die Vereinigung der PDS mit der westdeutschen WASG 2007 einfach mal ausgeblendet – müsse ihre eigene Vergangenheit erst einmal aufarbeiten. Sie sei  Träger eines Unrechtsstaates gewesen und habe auf alle Zeiten einen Führungsanspruch verwirkt… usw. Selbst Kanzlerin Merkel entblödet sich nicht zu behaupten, jetzt ziehe Karl Marx in der Thüringer Staatskanzlei ein. Der war mit der Ost-CDU schon lange drin!

Bleiben wir bei der CDU. Sie war im Osten neben DBD, LDPD und NDPD über mehr als 40 Jahre zuverlässiger Steigbügelhalter für die Macht der SED, deren Führungsrolle in Staat und Gesellschaft man gemeinsam in die Verfassung geschrieben hatte. Zusammen mit der SED bildeten alle vier Parteien den so genannten Demokratischen Block, in dem die SED mit den ihr „befreundeten Parteien“ – so wurde das Verhältnis von Befehlsgeber und Befehlsempfänger geschönt – zusammenarbeitete. Der Begriff „Blockflöten“ bezeichnete in der Öffentlichkeit seltsamerweise aber immer nur die vier „befreundeten“ Parteien, nicht die SED.

Wer Augen und Ohren hatte wusste, dass diese Parteien als Opposition untauglich waren. Allenfalls waren sie die Feigenblätter an den Schlingpflanzen der Macht. Ihre Eigenständigkeit war gleich null, ihre politischen Ziele orientierten sich an den Beschlüssen der SED. Der Historiker Hermann Weber bekräftigte in einem Interview 1990: „Honecker, Mielke und Mittag waren Stalinisten, aber es wäre verfehlt, den Stalinismus in der DDR auf die Diktatur dieser drei Personen einzugrenzen. Wenn es sich um ein gesellschaftliches System handelte, dann waren der hauptamtliche Apparat der SED mit über 300.000 Nomenklaturkadern und 2,3 Millionen Parteimitgliedern ebenso wie die Funktionäre der Blockparteien und Massenorganisationen priviligierte Träger dieses hierarchisch organisierten Stalinismus.“

Prozesse und drakonische Urteile gegen „Blockpolitiker“, die in den Anfangsjahren der DDR von den SED-Zielen abwichen, hatten ihre Spuren hinterlassen. Jacob Kaiser und Ernst Lemmer, die ersten Vorsitzenden der Ost-CDU, hatten die von Moskau vorgegebene Linie verlassen und wurden auf Geheiß der SED ihrer Posten enthoben und retteten sich 1947 in die Bundesrepublik. CDU-Außenminister Georg Dertinger wurde 1953 inhaftiert und, weil er angeblich die DDR beseitigen wollte, in einem Geheimprozess zu 15 Jahren Knast verurteilt. Auf diese Weise wurden die „Blockfreunde“ diszipliniert und durch ehemals aktive FDJ-Mitglieder wie Gerald Götting und Manfred Gerlach oder ehemalige KPD-Funktionäre wie Ernst Goldenbaum ersetzt. Zahlreiche führende „Block“-Politiker erhielten eine ideologische Ausrichtung auf SED-Parteischulen, waren dem MfS verpflichtet oder mindestens von dessen Gnade abhängig.

Für die Stärke der Blockparteien hatte die SED ein Limit gesetzt. Mehr als 130.000 Mitglieder durften es in keiner Partei sein. Zum Vergleich: Die Zahl der Genossinnen und Genossen in der SED betrug das Mehrfache der Mitgliederzahl aller Blockparteien zusammen. Allein der hauptamtliche SED-Apparat zählte 44.000 Mitarbeiter und war ausgeschlossen von jeder demokratischen Kontrolle. Die Vorgaben gingen soweit, dass es der Rücksprache mit der SED bedurfte, wenn ein Arbeiter den Werbungen der SED entgehen und in eine andere Partei „flüchten“ wollte. Zeitweilig verhängte die SED sogar Aufnahmesperren für die „befreundeten Parteien“.

Die Finanzierung der Parteien erfolgte über Mitgliedsbeiträge, parteieigene Unternehmen sowie durch die SED. Die Parteivorstände von CDU, DBD, LDPD, und NDPD hatten jedes Jahr im SED-Zentralkomitee ihre Finanzpläne vorzulegen. Die wurden – nicht selten mit Korrekturen – abgesegnet, bevor die Millionen flossen. Die Parteivorsitzenden bekamen drei- bis viermal im Jahr mehrere Millionen in Koffern überbracht, später per Überweisung, über die sie verfügten. Auf diese Weise erkaufte sich die SED ihre Führungsrolle. Die CDU beispielsweise kassierte im letzten kompletten DDR-Jahr 35,3 Millionen Mark, alle vier Parteien zusammen 112 Millionen.

Aufschlussreich war die Besetzung von Spitzenfunktionen in den „Blockparteien“. Zunächst entschied die entsprechende SED-Ebene im Kreis, im Bezirk oder im Zentralkomitee über den Vorschlag zur Besetzung von Führungspositionen in den „Blockparteien“. Gab es Zustimmung, war die Stasi am Zug. Lehnte die ab, war der Kandidat durchgefallen. Stimmte die Stasi zu, wurde der Kandidat den Mitgliedern mit dem Hinweis offeriert, dass „die anderen demokratischen Kräfte“ den Kandidaten ebenfalls empfehlen würden.

Einem mir gut bekannten CDU-Politiker, der 1990 der Regierung von Lothar de Maiziere angehörte, bekundete ich meine Achtung für jene, die im März 1972 in der Volkskammer das Gesetz zur Schwangerschaftsunterbrechung abgelehnt hatten. Mutig stellten sich christliche Abgeordnete gegen dieses Gesetz. Das hatte es im Parlament des Arbeiter-und-Bauern-Staates noch nicht gegeben. Woher, so fragte ich, nahmen diese Leute den Mut? Mein Gesprächspartner lachte und schilderte, welche Mühe er und seine Freunde im Fraktionsvorstand hatten, die 14 Nein-Stimmen zu organisieren. „Wir mussten unseren Abgeordneten versichern, dass ihnen aus der Ablehnung des Gesetzes keine Nachteile erwachsen würden. Die Ablehnung hatte den schönen Effekt, dass die Kirchen zufrieden waren und die Demokratie Triumphe feierte.“ Es war eine Farce.

Die ostdeutschen Parteien neben der SED haben stets einen Stellvertreter des Staatsoberhauptes gestellt,  einen Stellvertreter des Regierungschefs und mehrere Minister, sie haben die Aktionen der Zwangsaussiedelung missliebiger Bürger aus dem Grenzgebiet zur Bundesrepublik mit getragen, sie haben den Bau der Berliner Mauer befürwortet und gelobt, sie haben der Enteignung von rund 12.000 privaten mittelständischen Betrieben Anfang der Siebzigerjahre zugestimmt, sie haben zu allen Beschlüssen des SED-Zentralkomitees Sympathieerklärungen abgegeben und ihre eigenen Parteitagsbeschlüsse durch die SED-Führung absegnen lassen…

Übrigens war es in der Volkskammer von allen „Blockparteien“ geduldet, dass es nie möglich gewesen wäre, die SED durch eine andere Mehrheit zu überstimmen. Formal allerdings schon, denn beispielsweise gehörten nur 127 Abgeordnete von den insgesamt 500 Abgeordneten des vorletzten DDR-Parlaments der SED-Fraktion an. CDU, DBD, LDPD und NDPD hatten zusammen 208 Sitze. Genug um die SED-Fraktion zu überstimmen? Mitnichten. Außer den fünf Parteien bildeten der Gewerkschaftsbund (FDGB), der Demokratischem Frauenbund (DFD), die Freie Deutsche Jugend (FDJ), der Kulturbund (KB) und die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) eigene Fraktionen mit zusammen 165 Abgeordneten, von denen 142 der SED angehörten und der Parteidisziplin unterworfen waren. Macht zusammen mit den Mitgliedern der SED-Fraktion 269 Genossinnen und Genossen. Die Mehrheit der SED in der Volkskammer war also immer gesichert.

Zudem wurde mit Wissen der Blockparteien alles, womit sich die Volkskammer beschäftigte, zuvor im SED-Politbüro bestätigt bzw. beschlossen. Selbst die Diäten der Abgeordneten, die bis 1981 monatlich 500 Mark betrugen, dann auf 1.000 Mark erhöht wurden mit der Einschränkung, dass Abgeordnete, deren monatliches Gehalt mehr als 1.500 Mark betrug, die Hälfte der Diäten an die Fraktionskasse abzuführen hatten.

Bei den ersten freien Wahlen in der DDR im März 1990 war die Ost-CDU für kurze Zeit an die Schalthebel der Macht gelangt, ohne durch die SED bevormundet zu werden. Mein Gesprächspartner aus der Spitze der Ost-CDU bremste diese Euphorie: „Jede Regierungsvorlage in der Herrschaftszeit von Ministerpräsident de Maiziere ging zur Bestätigung in das Bundeskanzleramt. Auf unserer Regierungsetage hatte sich eine Beratergruppe etabliert, die alle Regierungsentscheidungen sorgfältig prüfte. Wir als CDU-Hauptvorstand waren faktisch bis zur Angliederung an die West-CDU entmachtet.“

Zum Schluss sei ein Jubiläumsschreibens der CDU an den Minister für Staatssicherheit zitiert, das der Parteivorsitzende Gerald Götting unterzeichnet hat. Darin wird der konsequente Kampf aller Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit als eine wesentliche Voraussetzung gewertet, dass der Aufbau des Sozialismus in der DDR auf friedlichem Wege durchgeführt werden konnte. „Wir christlichen Demokraten  sind fest davon überzeugt, dass die Organe Ihres Ministeriums auch künftig alles tun werden, um in engem Zusammenwirken mit allen gesellschaftlichen Kräften und allen Schichten unseres Volkes die Anschläge des Feindes zurückzuweisen und damit der revanchistischen Politik des westdeutschen Imperialismus einen Riegel vorzuschieben.“

Sollte die Geschichte der Ost-Parteien nicht auch einmal aufgearbeitet werden? Klammheimlich verschwanden viele ihrer Mitglieder nach dem Niedergang der DDR in der westdeutschen CDU und in der FDP, ohne Rechenschaft über ihre linientreue Liebedienerei gegenüber der SEDabzulegen.

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War die Einheit ein „Staatsstreich“?

Es geschah über Nacht. Wer sich am Abend des 2. Oktober 1990 in Pasewalk oder Elend, in Pankow oder Sorge als DDR-Bürger ins Bett legte, wachte Stunden später als Bundesbürger wieder auf. Viele hatten nichts dafür getan. Im Schlaf waren sie von der Grenze ostwärts überrollt worden. Und von allem, was von nun an auf sie zukam, hatten sie keine Ahnung.   

Der Tatort, an dem dieser weltbewegende Vorgang beschlossen wurde, ist inzwischen beseitigt – der Sitzungssaal der Volkskammer samt Palast der Republik. Also keine Führungen durch das Haus und keine Aufklärung darüber, dass es die demokratisch gewählte oberste Volksvertretung der DDR war, welche die Einheit herbeigeführt hat. Der Bundeskanzler vermarktete sie wie ein Hehler, der verkauft, was andere organisieren. Das Beste ging ohnehin zu Schnäppchenpreisen in falsche Hände.

Zur Sache: Zunächst war da der 7. Oktober 1989. Die DDR feierte pompös ihr vierzigjähriges Bestehen, als würden noch viele Jahrzehnte folgen. Honeckers Duz- und Kussfreunde aus der kommunistisch organisierten Welt, von denen etliche das Jahr so oder so nicht überlebten, gaben sich die Ehre. Unter ihnen auch KPdSU-Chef Michail Gorbatschow, der jedoch als erster noch am selben Abend abreiste. Wenige Tage später leitete Honecker den Untergang einer Reihe stalinistisch geprägter Führungseliten der „Bruderländer“ ein. Ein halbherziges Komplott seiner Zöglinge brachte ihn um Ämter, Ansehen, Häuschen und Jagdrevier. Das von ihm 1971 praktizierte Ritual beim Sturz Ulbrichts wiederholte sich diesmal ähnlich für ihn selbst.

In jenen Tagen wurde die „Internationale“ zum Hit der Straße. Hunderttausende stimmten darin überein, dass „das Recht wie Glut im Kraterherde nun mit Macht zum Durchbruch dringt.“ Bald darauf fiel die Berliner Mauer und im März darauf wurde ein neues DDR-Parlament gewählt – endlich richtig gewählt. Es war das letzte. Drückerkolonnen hatten den Wählern unter die Arme gegriffen: „Wenn ihr nicht CDU wählt, könnt Ihr die Westmark vergessen.“ Das half. Vom Sieg am meisten überrascht war der neue ostdeutsche CDU-Vorsitzende, der anfangs noch geglaubt hatte, den Sozialismus in seinem Lauf … könne man in geordnete Bahnen lenken. Ein gelernter Bratschist spielte im Staatsstreichorchester die erste Geige. Rasch beschloss das neue Parlament, die ehemaligen ostdeutschen Länder von Mecklenburg-Vorpommern bis Thüringen – sie waren 1954 wegen zu großer Eigenständigkeit in SED-beherrschte Bezirke zerlegt worden – wieder herzustellen. Dies sollte mit Wahlen zum Ländereinführungsgesetz am 14. Oktober geschehen.

Doch erst kam die berühmte Nacht zum 23. August, in der die Volkskammer entgegen allen ihren Rechten euphorisch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik beschloss. An dieser Stelle ist ein kurzer Rückblick auf den 5. März 1990 angebracht. Im Bonner Kanzleramt legte nach den Aufzeichnugen von Kanzlerberater Horst Teltschik eine kleine Runde  – ohne ostdeutsche Teilnehmer – fest, die DDR möge den Antrag stellen, dem Wirkungsbereich des Grundgesetzes nach Artikel 23 beitreten zu wollen. Der andere Weg zur Einheit, den das Grundgesetz auch ermöglichte, wurde gar nicht in Betracht gezogen: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Nicht unerwähnt sei an dieser Stelle, dass der SPD-Vorstand Anfang März einen Fahrplan zur deutschen Einheit vorschlug, in dem der Ausarbeitung einer neuen Verfassung der Vorrang eingeräumt wurde. Die Bürger der Bundesrepublik und der DDR sollten über die Einheit und die neue Verfassung abstimmen. Damit bestand große Übereinstimmung mit der Bürgerrechtsbewegung der DDR, die großen Wert auf eine Abstimmung durch das Volk  legte.

Doch die regierende CDU entschied sich mehrheitlich für einen raschen Beitritt. Der Termin am 3. Oktober 1990 sollte verhindern, dass es vier Tage später noch einmal einen DDR-Geburtstag geben würde. Es wäre der einundvierzigste gewesen. Da kam ein kluger Mensch darauf, dass die DDR – sei sie nun ein Satellitenstaat der Sowjets oder der Bundesrepublik Deutschland zugehörig – auf jeden Fall 41 Jahre alt werden würde. Dagegen war etwas zu unternehmen. Also wurde das Ländereinführungsgesetz geändert und die Bildung der ostdeutschen Länder vom 14. auf die Nacht zum 3. Oktober vordatiert. Von da an würde es die DDR nicht mehr geben. Praktisch lief das vom 2. zum 3. Oktober zwischen 23.59 und 0.01 Uhr so ab: Die DDR segnete nach vollzogener Einheit das Zeitliche, und nach ihrem allerletzten Atemzug traten Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen an ihre Stelle. Der Name des Staates, der den Antrag gestellt hatte, dem Wirkungsbereich des Grundgesetzes beizutreten und der in seiner kurzen demokratischen Phase die Einheit vollenden half, würde fortan nicht mehr genannt. Die DDR hatte allenfalls noch als Quelle für praktiziertes Unrecht, aufgedeckte Stasimachenschaften und abschreckendes Beispiel für nachwachsende Generationen zu dienen. Es schien, als hätten die nicht vorhandenen Länder um den Beitritt zur Bundesrepublik gebeten.

Möglicherweise fragt eines Tages ein aufmerksamer Schüler: Wo kamen denn die Länder her, die ab 1990 plötzlich neu im Grundgesetz auftauchen? Gehörten die vorher zur Sowjetunion oder als Westgebiete zu Polen und Tschechien? Ganz so war es nicht, wird der Urgroßvater sagen und in Erklärungsnot geraten. Im Grundgesetz heißt es nämlich: „Die Deutschen in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk.“

Hallo, wer hat da was in freier Selbstbestimmung? Die Bürger in den fünf neuen Ländern nicht. Denn die Länder existierten noch nicht als die Einheit entstand. Also können sie die „Einheit und Freiheit“ auch nicht vollendet haben. Wie kann man etwas vollziehen, wenn man noch nicht auf der Welt ist? Man müsste annehmen, die ungeborenen Fünflinge haben ihre Mutter zur Entbindung in die Klinik gefahren.

An dieser Stelle muss die Frage erlaubt sein, ob es sich beim Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nicht möglicherweise um einen Staatsstreich handelte. In der per Volksentscheid am 6. April 1968 angenommenen Verfassung der DDR, die bis 2. Oktober 1990 galt, heißt es in Artikel 65: „Entwürfe grundlegender Gesetze werden vor ihrer Verabschiedung der Bevölkerung zur Erörterung unterbreitet. Die Ergebnisse der Volksdiskussion sind bei der endgültigen Fassung auszuwerten.“ Nun gab es 1990 in der DDR bekanntlich keine Diktatur mehr, die führende Rolle der SED war aus der Verfassung getilgt, spätestens ab März gab es ein tatsächlich frei gewähltes Parlament. Ein Grund mehr, die gültige DDR-Verfassung zu achten oder zu ändern. Denn die Abgeordneten der Volkskammer hatten nicht das Recht, ohne Volksbefragung das Parlament aufzulösen, geschweige die DDR einem anderen Staat einzugliedern. Zu ihrer eigenen Sicherheit aber setzten sie rechtzeitig den Paragrafen 96 des Strafgesetzbuches außer Kraft, in dem es heißt: „Wer es unternimmt … das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik einem anderen Staat einzuverleiben oder einen Teil desselben von ihr loszulösen … wird mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren oder mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe bestraft.“

Auf meine Frage an den damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, der maßgeblich den Einigungsvertrag verantwortet, erklärte dieser: „Dass die Volkskammer verfassungsrechtlich zur Ratifizierung des Einigungsvertrages befugt war und das Votum für die deutsche Wiedervereinigung von der überwältigenden Mehrheit der Menschen in der ehemaligen DDR nicht nur mitgetragen wurde, sondern gerade politisch gewollt war, steht für mich außer Zweifel.“

Der Verdacht lässt sich nur schwer ausräumen, dass die christlich dominierte Mehrheit in der Volkskammer den von rund 1,2 Millionen Bürgerinnen und Bürgern aus allen ostdeutschen Volksschichten unterzeichneten Aufruf „Für unser Land“, der u.a. von  Lothar de Maiziere, Friedrich Schorlemmer, Christa Wolf, Tamara Danz, Frank Beyer, Stefan Heym und Walter Janka signiert wurde, eiskalt vom Tisch gefegt hat. Selbst Bärbel Bohley, die „Mutter der Revolution“, wollte eine reformierte DDR, die sich auf der Grundlage einer demokratischen Verfassung eigenständig und auf Augenhöhe mit dem anderen deutschen Staat  auf dem Weg einer Konföderation über eine Vereinigung verständigen würde.

Bis heute bekamen die Ostdeutschen keine Gelegenheit, „in freier Selbstbestimmung“ über das Grundgesetz abzustimmen. Auch das hat vermutlich einen guten Grund. Würden die Wähler in den neuen Ländern das Grundgesetz ablehnen und einer neuen gemeinsamen Verfassung den Vorzug geben, wäre die Zweidrittelmehrheit der deutschen Länder dahin, weil der Freistaat Bayern bis heute seine Zustimmung zum Grundgesetz verweigert. Eine neue Verfassung müsste geschrieben und von mindestens zwei Dritteln der Bundesländer angenommen werden. In Deutschland gäbe es nach Weimar und Bonn eine von allen frei gewählte Berliner Republik, und kein adoptiertes Stiefkind säße mit der Gunst der großen Tafel und mit wehmütigen Erinnerungen am Katzentisch. Und alle wären sich einig: Wir sind tatsächlich ein Volk!

Übrigens: Am Nachmittag des 23. August 1990 verlas Kanzler Kohl vor dem Bundestag den Beitrittsbeschluss der Volkskammer. Dabei ist ihm dieser erst zwei Tage später mit einem offiziellen Schreiben des amtierenden Staatsoberhauptes der DDR, Sabine Bergmann-Pohl, übermittelt worden. So hatte Kohl die erstmals demokratisch gewählten Repräsentanten der DDR zu Marionetten gemacht.

Zum Schluss eine 500 Jahre alte Weisheit des Begründers der politischen Wissenschaft, Niccolo Machiavelli: „Will man einem Staat eine neue Verfassung geben, und soll diese Neuerung angenommen und zur Zufriedenheit eines jeden erhalten werden, so muss man unbedingt einen Schatten der alten Einrichtungen beibehalten, damit die Staatsordnung dem Volk unverändert erscheint, auch wenn sie völlig verändert ist. Denn die Mehrzahl der Menschen lässt sich mit dem Schein so gut abspeisen wie mit der Wirklichkeit, ja oft wird sie mehr durch den Schein als durch die Dinge selbst bewegt.“

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